Brüchige Mythen der Menschheitsgeschichte : Ötzi und die Schamanin
In ihrem Buch "Vielfalt" öffnet Morgane Llanque den Blick auf eine Menschheitsgeschichte, die diverser war, als es gängige Erzählungen vermuten lassen.
Wer die berühmteste Gletschermumie der Welt besucht, trifft auf einen weißhäutigen und brustbehaarten Mann mit langen dunkelblonden Haaren. So haben ihn die Museumsmacher in Bozen gestaltet. Seit gut zwei Jahren weiß man, wie sehr sie sich täuschten. Denn Ötzi, 1991 an der österreichisch-italienischen Grenze gefunden, war kein Weißer. Er hatte dunkle Haut und vermutlich eine Glatze. Seine Familie stammte wahrscheinlich aus Anatolien und kam schon um 3.000 vor Christus in das spätere Tirol.
Der Mann aus dem Eis: Rekonstruktion der berühmten Gletschermumie Ötzi im Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen. Inzwischen weiß die Forschung, dass wohl nicht weiß, sondern dunkelhäutig war.
Die Neubestimmung des Ötzi-Genoms machte weltweit Schlagzeilen. Die meisten Geschichten hingegen, die Morgane Llanque in ihrem treffend "Vielfalt" genannten Buch erzählt, kennen fast nur Historiker, und auch diese noch nicht lange. Denn viele wurden zwar schon vor langer Zeit im Wortsinn ausgegraben, offenbaren ihren wahren Gehalt aber erst jetzt: aufgrund moderner Analysemethoden, aber auch, so darf man annehmen, aufgrund einer Geschichtswissenschaft, die diverser ist als noch vor wenigen Jahrzehnten.
Dank Morgane Llanque, die auf ein Studium der Globalgeschichte den Beruf der Journalistin folgen ließ, öffnet sich neben Fachleuten auch der allgemeinen Öffentlichkeit eine Welt, in der Diversität seit jeher der Normalfall war.
Keine von der Natur vorgegebene Rollenverteilung
Ein zentraler Erzählstrang befasst sich mit Geschlechterrollen, die längst nicht so festgelegt waren, wie sie Schulbücher mit jagenden Männern und säugenden Frauen bis heute oft darstellen. In ganz Europa fanden Forscherinnen und Forscher in steinzeitlichen Gräbern Frauen mit einer Muskulatur, die es mit der heutiger Marathonläufer aufnehmen könnte - ein Körperbau, der kaum nur vom Kinderhüten und Beerensammeln stammen kann, argumentiert Llanque. Aus dem heutigen Simbabwe berichtet sie von steinzeitlichen Malereien, die Körper mit geschwollenen Bäuchen und Brüsten während der Menstruation zeigen - und zugleich mit den Attributen der Jagd.
Funde von Männern, die mit Kindern im Arm bestattet wurden, widerlegen das Bild einer naturgegebenen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Sogar Hinweise auf ein drittes Geschlecht, heute gern als Ideologie verspottet, hat Llanque gefunden: In Finnland wurde ein Grab aus der Eisenzeit entdeckt, in dem ein Mensch mit einer Brosche und Wollkleidung, wie sie Frauen zugeschrieben wurde, aber auch mit zwei Schwertern bestattet war. Eine finnische Archäologin stellte einen XXY-Chromosomensatz fest. "Diese nicht binäre Identität", stellt Llanque fest, "scheint bereits in der Eisenzeit reflektiert worden zu sein."
Gemischte Bevölkerung im London des 14. Jahrhunderts
Die Parallelen zu aktuellen Debatten über Identität, Zugehörigkeit und Migration sind augenfällig. Wenn in einer Grabstelle mitten in London im 14. Jahrhundert 29 Prozent der zur Pestzeit Bestatteten asiatischer, afrikanischer oder gemischter Herkunft waren, ist das kaum weniger als heute mit einem Anteil von rund 40 Prozent. Und fast heiter wirkt der Blick, den Llanque auf die vor rund 9.000 Jahren bestattete "Schamanin von Bad Dürrenberg" blickt, die im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle ausgestellt ist. Auch sie hatte dunkle Haut. "Ach diese Ironie", schreibt Llanque, im Jahr 2024 sei in der Kommunalwahl von Sachsen-Anhalt mit der AfD eine Partei zur stärksten politischen Kraft gewählt worden, "die fest an den Mythos des starken Mannes und des autochthonen weißen Deutschen glaubt, während in diesem Bundesland Tausende Jahre lang eine dunkelhäutige Frau mit Waffen, reichem Schmuck und Werkzeugen begraben lag.”
Morgane Llanque:
Vielfalt.
Eine andere Geschichte der Menschheit.
Droemer,
München 2025;
304 S., 24,00 €
Natürlich ist das Buch genau wegen dieser Parallelen lesenswert - machen sie doch sehr deutlich, dass vieles, was heute als "woke" gilt, schon vor Jahrtausenden normal war. Im letzten Kapitel, das sich dem Ist-Zustand unter anderem in Deutschland widmet, hat es hingegen nicht seine stärksten Momente. Zu groß ist hier die Konkurrenz aktueller Analysen; zu gern würde man lieber noch ein bisschen in der Ferne bleiben. Oder wussten Sie, dass indigene Maori-Frauen auf Rarotonga in der Südsee und in Neuseeland schon im Jahr 1893 als erste weltweit wählen durften - und dass sie real mehr Macht hatten als die weißen Frauen, die im 19. Jahrhundert auf die Inseln kamen?
Eine Ode an marginalisierte Menschen
Lesenswert sind auch die Kapitel, die sich biografisch nähern, etwa jenes über Menschen mit Behinderungen, die Großes leisteten: Die spanische Feministin Teresa de Cartagena war taub, der Dichter Lord Byron hatte einen Klumpfuß, Michelangelo zeigte Züge von Autismus. All das macht Menschen sichtbar, wie sie im Geschichtsunterricht kaum je auftauchen. Genau das ist Llanques Anliegen: eine “Ode, die auch für alle anderen marginalisierten Menschen gelten könnte, die sich aller Versuche zum Trotz nicht haben unterkriegen lassen.”
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