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Rezension: Genie oder Monster : Verteidigung der Schönheit

Darf man noch Filme von Woody Allen schauen? Die amerikanische Publizistin Claire Dederer ergründet die Schwierigkeit, Künstler und Werk zu trennen.

18.01.2024
2024-02-26T11:39:38.3600Z
3 Min
Foto: picture alliance/United Archives

Roman Polanski im Film "Tanz der Vampire" (1967): Gegen den Schauspieler wurden wiederholt Vorwürfe wegen Vergewaltigung erhoben.

Sag, wie hältst Du es mit Gérard Depardieu? Nach Vorwürfen sexuellen Missbrauchs und Anzeigen wegen Vergewaltigung ist in Frankreich ein Kulturkampf entbrannt. Soll der Schauspieler und gewissermaßen auch Säulenheilige der Nation angesichts solch schwerer Vorwürfe von Bildschirmen und Leinwänden verbannt werden? Oder soll er gegen eine prüde "Wokeness", ein rigides "Canceln" verteidigt werden und mit ihm eine Errungenschaft der Republik, das Prinzip der Unschuldsvermutung?

Lassen sich Künstler und Werk trennen?

Wer sich in dieser Frage und in vergleichbaren Fällen nicht immer in der Lage sieht, zu einem entschiedenen Urteil zu kommen, für den könnte Claire Dederers Buch "Genie oder Monster" eine lohnende Lektüre sein: Ob Ernest Hemingway, Pablo Picasso, Woody Allen, Miles Davis oder Roman Polanski - all diese Männer haben große Kunst geschaffen, die noch immer Menschen berührt. Sie alle aber sind mit Monströsem konfrontiert, nämlich mit Vorwürfen der Gewalt gegenüber Frauen beziehungsweise des sexuellen Missbrauchs, teils von Minderjährigen. Lassen sich Künstler und Werk, Biographie und das Geschaffene trennen? Das hält die US-Publizistin für eine Illusion. Das Schreckliche stört das großartige Werk, "befleckt" es, lässt es in einem anderen Licht erscheinen. Verdrängen sei keine Option: "Niemand von uns will über Michael Jackson wissen, was wir wissen." Und auch der Versuch, die "Größe des Werks gegen die Schwere der Tat" aufrechnen, führt für Dederer in die Irre.


Schwarz-weiß Porträt von Claire Dederer mit offenen Haaren, leichtes Lächeln
Foto: Stanton J Stephens
„Niemand von uns will über Michael Jackson wissen, was wir wissen.“
Claire Dederer, Autorin

Ihr Buch ist ein tastender Essay, der die Rolle des Kritikers oder der Kritikerin, ihre Prägungen und Befangenheiten, stets mitbedenkt. Ein Kunstwerk zu genießen ist für Dederer schlicht "eine Begegnung zweier Biografien: Die Biografie des Künstlers, die den Werkgenuss stören kann, und der Biografie des Betrachters, die vielleicht beeinflusst, wie er die Kunst in sich aufnimmt".

Plädoyer für ein reflektierendes Aushalten von Ambivalenzen

Es würde zu kurz greifen, ihr Buch als Kommentar zur MeToo-Debatte zu lesen. Das ist es auch, inklusive Seitenblicke auf Simone de Beauvoir und die Radikalfeministin (und Andy Warhol-Attentäterin) Valeria Solanas. Aber Dederer führt die Leser eben auch zu den Abgründen großer Künstlerinnen wie Doris Lessing oder Joni Mitchell, denen man vorwerfen kann, ihre Kinder für die Kunst im Stich gelassen zu haben - was männlichen Künstlerkollegen selten zum Vorwurf gemacht wird, wie die Autorin festhält. Hier wie dort schreckt Dederer vor kategorischen Verurteilungen zurück, plädiert für ein reflektierendes Aushalten von Ambivalenzen und Ambiguitäten. Ja, wir lieben zuweilen die Werke gefallener Genies und Monster: "Das ist vielleicht nicht ideal, vielleicht sogar deprimierend, aber das ist wahr".

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Dederer gelingt es, zwei gegensätzliche Dinge in einen Zusammenhang zu stellen: Den emanzipatorischen Kern des MeToo-Aufschreis auf der einen, die Verteidigung der Kunst und ihrer Schönheit auf der anderen Seite. Die Schönheit der Kunst sei zerbrechlich, sie lasse sich auch nicht gegen Nutzen oder Moral aufrechnen, so die Autorin.

Denkmalstürze, so lässt sich ihr Plädoyer wohl auch zusammenfassen, haben nie die Eindeutigkeit, die die Bilderstürmer mit ihnen herausstellen wollen. Man muss vom Denkmal etwas stehen lassen, damit die Nachwelt begreift, weshalb es eines Sturzes wert gewesen ist.

Claire Dederer:
Genie oder Monster.
Von der Schwierigkeit, Künstler und Werk zu trennen.
Piper,
München 2023;
320 S., 24,00 €