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Rezension: "Der Preis der Welt" : Vom Handel zur Industrie

Friedrich Lengers Globalgeschichte des Kapitalismus wirft aus ökonomischer und wirtschaftsgeschichtlicher Perspektive einige Fragen auf.

30.12.2023
2024-02-28T10:18:54.3600Z
3 Min
Foto: picture alliance / akg-images

An historischen Fakten und Zusammenhängen mangelt es diesem Buch nicht. Friedrich Lenger hat mit "Der Preis der Welt" ein Werk verfasst, das nur möglich ist, weil der Autor viele Jahre wissenschaftliche Detailarbeit geleistet hat. Lengers Thema ist die Darstellung globaler Ungerechtigkeiten und ökologischer Krisen, die er in Zusammenhang zur kapitalistischen Ordnung stellt. "Die Verschränkung zwischen der fortgeschrittenen ökonomischen Verflechtung der Welt und einer zur planetaren Bedrohung werdenden Naturverschmutzung geht mit globalen Asymmetrien einher, die von Kapitalinteressen hervorgetrieben werden", schreibt der Autor.

Europäische Expansion im 15. Jahrhundert

Dass diese Kapitalinteressen nicht erst seit gestern wirken, untermauert Lenger mit einer detailreichen Geschichte über die zurückliegenden 500 Jahre Weltgeschichte. Der Autor beschreibt umfassend globalpolitische und vor allem weltwirtschaftliche Entwicklungen seit dem Beginn der europäischen Expansion im 15. Jahrhundert. Zahlreiche historische Zusammenhänge werden faktenreich geschildert. Der Übergang von der portugiesischen Führungsrolle zur niederländischen auf den Weltmeeren, die Rolle von Sklaven auf dem amerikanischen Kontinent, die globalen Handelsbeziehungen zwischen Europa Nordamerika, Lateinamerika und Asien werden auf den ersten 130 Seiten des knapp 600-seitigen Gesamtwerks beschrieben.

Mit dem 19. Jahrhundert lässt Lenger diese Zeit des Handelskapitalismus enden. Was nun beginnt, nennt er Industriekapitalismus, bis er dann ab den 1970er Jahren von Finanzkapitalismus spricht.

Lenger grenzt sich von Autoren wie Horst Gründer ab, der schon vor mehr als 20 Jahren mit "Eine Geschichte der Europäischen Expansion. Von Entdeckern und Eroberern zum Kolonialismus" ein spannendes, gut lesbares populärwissenschaftliches Buch über grob jene Zeit vorgelegt hat, die Lenger als Handelskapitalismus beschreibt. Lenger kommt es offenkundig weniger auf eine spannende Erzählung an als auf eine politische Einordnung und einen Bezug zu den Krisen der Gegenwart.

Der Autor hält am Kapitalismus-Begriff fest

Gelingt dies mit dem Rückgriff auf den Begriff des Kapitalismus zur Erklärung weltgeschichtlicher Phänome? Es sei "ein Festhalten an diesem Begriff unbedingt sinnvoll", schreibt Lenger in seiner theoriereichen Einleitung, und stellt sich damit in eine Gegenposition zu Ökonomen und Wirtschaftshistorikern.

Der Wittener Wirtschaftsprofessor Dirk Sauerland jedenfalls schreibt in Gablers Wirtschaftslexikon: "Eine wissenschaftliche Betrachtung ist leichter möglich, wenn die wertenden Begriffe Kapitalismus und Sozialismus ersetzt werden durch wertfreie Bezeichnung wie Marktwirtschaft und zentralgeleitete Wirtschaft."

Auch kann bestritten werden, dass die Begriffe Wachstum, Entwicklung und Industrialisierung nicht taugen, Asymmetrien in der Weltwirtschaft zu beschreiben, wie Lenger in seiner Einleitung schreibt. Sicher, die europäischen Entdecker haben von Anfang an in allen Regionen der Welt furchtbare Gewaltverbrechen begangen. Lenger stellt die Motivlage überzeugend dar, ohne einzelne Individuen moralisch zu verurteilen, sondern indem er die institutionellen Voraussetzungen und Wirkungszusammenhänge umfassend erklärt.

Aber reichen diese aus, um die Veränderungen insbesondere im 19. Jahrhundert darzustellen? Vielleicht ist es gerade an dieser Schwelle doch hilfreich, anstelle des ideologisch aufgeladenen Kapitalismusbegriffs jenen eher beschreibenden der Industrialisierung zu nutzen. Zwar schreibt auch Lenger über Produktivitätszuwächse in jener Epoche, die er als "Industriekapitalismus" bezeichnet. Aber er vernachlässigt, dass die gigantische Einkommenslücke zwischen armen und reichen Ländern ein Ergebnis der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts ist.

Armutsproblem der Menschheit

Ein eindrucksvolles Beispiel, das vor der industriellen Revolution nicht Ungleichheit das Armutsproblem der Menschheit war, sondern zu geringe Produktion und Produktivität, hat der 2020 verstorbene Wirtschaftshistoriker Toni Pierenkämper in seinem Werk "Wirtschaftsgeschichte. Die Entstehung der modernen Volkswirtschaft" ausgeführt, in dem er die Frage stellte, welche Folgen es gehabt hätte, wenn man im 17. Jahrhundert den gesamten Besitz des britischen Adels unter allen Bewohnern der Insel gleich verteilt hätte. Pierenkämpers Antwort: "Man könnte mit einer gewissen Überakzentuierung vielleicht festhalten, dass vor der Umverteilung die größte Mehrheit der Bevölkerung Englands im Jahre 1688 arm gewesen sei, nach der Umverteilung aber alle Einwohner." Der Reichtum des Adels hätte also nicht ausgereicht, die Armen aus der Armut zu holen.

Die Zauberformel zur Reichtumsgewinnung heiße also nicht Umverteilung, sondern Produktivitätssteigerung. "Aber diese Zauberformel war 1688 noch nicht entschlüsselt." Dass dies dann doch zuerst in England gelang, erscheint für das Verständnis der Wirtschaftsgeschichte fundamental - schade, dass Lenger das in seiner Globalgeschichte des Kapitalismus nicht ausführlicher thematisiert.

Friedrich Lenger:
Der Preis der Welt.
Eine Globalgeschichte des Kapitalismus.
C.H. Beck,
München 2023;
669 S., 38,00 €