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Vor 40 Jahren : Fassbinder-Stück nach Antisemitismusvorwurf abgesagt

Nachdem Mitglieder der jüdischen Gemeinde die Bühne besetzt hatten, wird am 11. November 1985 in Frankfurt ein Theaterstück von Rainer Werner Fassbinder abgesetzt.

06.11.2025
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3 Min

"Er saugt uns aus der Jud. Trinkt unser Blut und setzt uns ins Unrecht. Weil er Jud ist und wir die Schuld tragen (...) Wäre er geblieben, wo er herkam oder hätten sie ihn vergast, ich könnte heute besser schlafen." Dass Rainer Werner Fassbinders 1975 verfasste Werk "Der Müll, die Stadt und der Tod" von Kritikern als antisemitisch eingestuft wurde, verwundert bei solchen Sätzen aus dem Theaterstück nicht. Offiziell uraufgeführt wurde es 1987 in New York - nachdem eine Aufführung in Frankfurt zwei Jahre zuvor gescheitert war.

Hunderte Menschen demonstrierten am geplanten Premierentermin

Am 11. November 1985 gab der Intendant der Städtischen Bühnen dem Druck der Öffentlichkeit nach und nahm das Stück vom Spielplan. Vorangegangen waren monatelange Debatten. Thema des Stücks sind der Frankfurter "Häuserkampf" in den frühen 1970er Jahren und die Verwandlung des alten Westends in ein modernes Bankenviertel, bei dem es zu Korruption und Grundstücksspekulationen gekommen war. 

Hauptfigur ist ein namenloser Immobilienspekulant, von Fassbinder nur "der reiche Jude" genannt - skrupellos, rücksichtslos und von den Mächtigen protegiert. Viele glaubten, in der Figur Ignatz Bubis zu erkennen, damals Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Frankfurt.

Foto: picture-alliance / dpa

Auf dem Weg zur Uraufführung: Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, Ignatz Bubis (r.), und deren Kulturbeauftragter Michel Friedman.

Der Streit um "Der Müll, die Stadt und der Tod" gipfelte am 31. Oktober, als das Stück uraufgeführt werden sollte. Die Städtischen Bühnen waren von der Polizei abgeriegelt, Hunderte Menschen, darunter Kommunalpolitiker von CDU, SPD und FDP, demonstrierten, hielten Plakate mit Slogans wie "Wehret den Anfängen" in den Händen. Das Publikum betrat das Theater über einen mit Gittern abgesperrten Weg. 

Als drinnen endlich der Vorhang aufging, besetzten rund zwei Dutzend Personen, die sich mit gefälschten Karten Zutritt verschafft hatten, die Bühne. Darunter auch Bubis und Michel Friedman, damals CDU-Stadtverordneter. Sie entfalteten ein Transparent mit der Aufschrift "Subventionierter Antisemitismus" und wollten die Aufführung des Stücks verhindern.

Protest als erster großer Emanzipationsprozess der jüdischen Gemeinschaft

Im Zuschauerraum entbrannte eine heftige Diskussion. Die Befürworter der Aufführung argumentierten mit der Freiheit der Kunst, mit Fassbinders Einsatz für Minderheiten und dem Hinweis, dass man erst nach der Aufführung über das Stück urteilen könne. Der jüdische Grünen-Politiker und ehemalige Hausbesetzer Daniel Cohn-Bendit forderte ein Ende der Bühnenbesetzung und die Aufführung des Stücks. Doch die Entschlossenheit der Gegner sorgte letztlich dafür, dass die Vorstellung abgesagt wurde.

Historiker sehen in dem Protest einen Beleg für eine Zäsur, die in der Bundesrepublik in den 1980er Jahren stattfand: Erstmals wagten sich deutsche Juden wieder in die Öffentlichkeit, um für ihre Interessen einzutreten. "Wir sagten: Raus aus den Hinterzimmern mit Oberbürgermeistern und Ministerpräsidenten, raus in die Öffentlichkeit, lasst uns öffentlich streiten, lasst uns diskutieren!", erinnerte sich Friedman bei einem Symposium, das 2021 am Schauplatz der Bühnenbesetzung von 1985 vom Schauspiel Frankfurt organisiert wurde. Damals entstand laut Friedman der erste große Emanzipationsprozess der jüdischen Gemeinschaft.

Das umstrittene Fassbinder-Stück wurde schließlich 2009 erstmals in Deutschland, in Mülheim an der Ruhr, aufgeführt - begleitet von Kritik seitens des Zentralrats der Juden und der örtlichen jüdischen Gemeinde.

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