Gedenken in Frankreich : De Gaulles Vermächtnis
Am 8. Mai erinnert Frankreich an das Ende des Zweiten Weltkriegs. Lange wurde dabei die Beteiligung des Vichy-Regimes an den NS-Verbrechen verschwiegen.
Das Gymnasium Franklin Roosevelt ist ein roter Backsteinbau hinter dem Bahnhof der ostfranzösischen Stadt Reims. Dort, wo heute mehr als 2.000 Schülerinnen und Schüler lernen, wurde in der Nacht zum 7. Mai 1945 Geschichte geschrieben. Der Chef des Wehrmachtführungsstabs, Alfred Jodl, unterzeichnete hier, im Hauptquartier der westlichen Alliierten, um 2.41 Uhr die Kapitulation der Wehrmacht. Zwar folgte am 8. Mai noch die Ratifizierung in Berlin-Karlshorst, an der alle Siegermächte - auch die Sowjetunion - teilnahmen. Doch das Schweigen der Waffen wurde im Kartensaal des Gymnasiums in Reims besiegelt.
"Wir haben das Recht wiedergewonnen, freie Menschen zu sein", verkündete ein euphorischer Reporter am 8. Mai 1945 in den französischen Nachrichten. Schwarz-weiß-Bilder zeigten den Chef der provisorischen Regierung, General Charles de Gaulle, der unter den Jubelrufen von Zehntausenden die Champs-Elysées entlang zog. De Gaulle legte am Grabmal des unbekannten Soldaten unter dem Triumphbogen einen Kranz nieder - eine Geste, die die Präsidenten bis heute wiederholen.
Frankreich beklagte zum Kriegsende 400.000 Tote - die Hälfte davon Zivilisten
Als de Gaulle 1958 zum Präsidenten gewählt wurde, strich er allerdings den fünf Jahre zuvor eingeführten Feiertag. 1975 ging der konservative Staatschef Valéry Giscard d'Estaing sogar so weit, die Feierlichkeiten zum 8. Mai ganz abzuschaffen. Er führte stattdessen das Gedenken am 9. Mai ein, an dem der französische Außenminister Robert Schuman 1950 die europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl vorgeschlagen hatte, den Vorläufer der Europäischen Union.
Doch Giscards Nachfolger François Mitterrand machte nach seiner Wahl 1981 den 8. Mai wieder zum Feiertag. Frankreich ist damit das einzige Land der westlichen Siegermächte, in dem der 8. Mai arbeitsfrei ist. Dabei war das wichtigere Ereignis für die meisten Französinnen und Franzosen der 6. Juni 1944, als die Alliierten in der Normandie landeten. Nacheinander befreiten sie von dort aus die großen Städte: Paris und Marseille im August, Straßburg im November.
Zum Kriegsende beklagte Frankreich rund 400.000 Tote, darunter mehr als die Hälfte Zivilisten. Unter den Toten waren auch mehr als 70.000 Jüdinnen und Juden, die aus Frankreich in die Konzentrationslager deportiert und dort ermordet worden waren. Willige Handlanger der Deportation waren französische Beamte und Polizisten, Diese Kollaboration wurde jahrzehntelang totgeschwiegen.
Erst unter Präsident Jacques Chirac änderte sich 1995 die Erinnerungskultur in Frankreich
Auch die Rolle der französischen Regierung in Vichy, die eng mit den Nazis zusammenarbeitete, war nach dem Krieg kein Thema. "Vichy wurde lange Zeit als nicht rechtmäßige Zwischenetappe präsentiert. Das echte Frankreich, das Widerstand leistete und kämpferisch war, saß in London", schreibt der Autor Antoine Vitkine. Selbst de Gaulle, der von London aus den Widerstand angeführt hatte, tat die Kollaborateure als eine Minderheit ab, "eine Handvoll Erbärmlicher und Unwürdiger". Der Chef der Vichy-Regierung, Philippe Petain, wurde zwar 1945 zum Tode verurteilt, aber von de Gaulle umgehend begnadigt.

Der französische Präsident Emmanuel Macron inspiziert die Truppen am Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland: Die Feierlichkeiten in Paris folgen jedes Jahr einer ähnlichen Choreographie.
Erst mit Präsident Jacques Chirac änderte sich 1995 die Erinnerungskultur. Am Jahrestag der Razzia des "Wintervelodroms", bei der 1942 rund 8.000 Jüdinnen und Juden festgenommen und später deportiert worden waren, sagte der Konservative: "Der kriminelle Irrsinn der Besatzer wurde von den Franzosen, dem französischen Staat, unterstützt." Frankreich, die Heimat der Menschenrechte, habe das nicht wieder Gutzumachende begangen.
Heute wird die Beteiligung der französischen Behörden und der Polizei an den NS-Verbrechen anerkannt. "Das steht auch so in den Schulbüchern", sagt der Historiker Fabrice Grenard. Allerdings gebe es nach wie vor Revisionisten, die die Rolle der Vichy-Regierung schönredeten.
Mehrheit der französischen Bevölkerung befürwortet die Zeremonien zum 8. Mai
So behauptete der rechtsextreme Präsidentschaftskandidat Eric Zemmour, dass Vichy die französischen Juden beschützt habe. "Das war natürlich nicht der Fall", bemerkt Grenard. Ein Pariser Berufungsgericht verurteilte Zemmour deshalb Anfang April zu einer Geldstrafe von 10.000 Euro.
80 Jahre nach Kriegsende ist der Zweite Weltkrieg nach wie vor in den Köpfen der meisten Französinnen und Franzosen präsent. Laut einer Umfrage befürworten 69 Prozent die Zeremonien am 8. Mai, wo überall im Land an den Kriegsdenkmälern Kränze niedergelegt werden. Anfangs habe die Erinnerung vor allem dem Sieg über Nazi-Deutschland gegolten, sagt Grenard. "Inzwischen ist der 8. Mai zu einer Botschaft des Friedens und der europäischen Werte geworden."
In Paris verlaufen die Feierlichkeiten immer nach einer ähnlichen Choreographie: Der Präsident fährt mit einer großen Polizeieskorte die Champs-Elysées hinauf und ehrt zunächst Charles de Gaulle an dessen Statue vor dem Grand Palais. Dann inspiziert er die rund um den Triumphbogen versammelten Truppen und legt vor dem Grabmal des unbekannten Soldaten einen Kranz nieder. Zum Abschluss erklingt die Marseillaise, die de Gaulle vor 80 Jahren noch selbst anstimmte. Heute wird sie vom Chor der französischen Armee gesungen.
Die Autorin ist Korrespondentin in Paris.
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