Annette Schavan im Interview : "Erinnerungskultur zeigt uns, wozu Menschen fähig sind"
Die frühere Bildungsministerin Annette Schavan will die Erinnerungsarbeit mehr in die Breite der Gesellschaft tragen und sieht dabei auch Unternehmen in der Pflicht.
Frau Schavan, die Zeit des Nationalsozialismus steht im Zentrum der deutschen Erinnerungskultur. Warum ist dieses ritualisierte Gedenken immer noch notwendig?
Annette Schavan: Es ist wichtig für das Selbstverständnis unserer Gesellschaft. Woher kommen wir? Was hat das Grundgesetz und die junge Bundesrepublik geprägt? Ohne etwas über den Zivilisationsbruch im Dritten Reich zu wissen, ist es schwer zu verstehen, was unser Land heute ausmacht. Leider kehrt vieles, was damals zum Holocaust geführt hat, wieder: die Ausgrenzung von Menschen, das Schüren von Hass gegen Minderheiten, die "Juden raus"-Rufe. Meine Generation hat nicht für möglich gehalten, das noch einmal erleben zu müssen.
Was kann Erinnerungskultur dagegen ausrichten?
Annette Schavan: Sie zeigt uns, wozu Menschen fähig sind, wozu Hass und Ausgrenzung führen können. Denn das Unheil kommt auf leisen Sohlen. Wenn es offenkundig wird, ist es oft schon zu spät. Die jungen Leute sollten daher nicht naiv oder pragmatisch sein, wenn es wieder Stimmen gibt, die von der vermeintlich "heilen Welt" von früher schwärmen, die Vielfalt ablehnen und eine völkische Gemeinschaft herbeisehnen. Das sind Vorboten des Unheils.

In einer ZEIT-Umfrage haben sich gerade 55 Prozent der Befragten dafür oder eher dafür ausgesprochen, einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit zu ziehen. 59 Prozent finden, die ständige Erinnerung an den Nationalsozialismus verhindere ein gesundes Nationalgefühl. Kann es sein, dass unsere Erinnerungskultur auf viele abschreckend wirkt?
Annette Schavan: Ich glaube das nicht. Aber es gibt Veränderungen in der Gesellschaft, die es den Verächtern der Demokratie leichter machen, Menschen für sich zu gewinnen. Die Vielfalt, die manche als überfordernd und nachteilig empfinden, hat in ganz Europa zugenommen. Während der Corona-Pandemie haben sich viele Menschen sehr isoliert gefühlt. Dazu kommt der Krieg in der Ukraine. Die Auswirkungen müssen wir ernst nehmen und die Probleme politisch lösen. Wir müssen uns aber auch fragen, wie wir die Menschen mit unserer Erinnerungsarbeit besser erreichen können.
Welche Ideen haben Sie?
Annette Schavan: Wir müssen die Erinnerungskultur weiter in die Breite der Gesellschaft tragen. Es gab und gibt die klassischen Erinnerungsmilieus - regionale Initiativen, christliche und jüdische Gesellschaften. Und es gibt offizielle Gedenktage wie den Holocaust-Gedenktag am 27. Januar. Aber von da muss der Funke überspringen auf Kommunen, Behörden, Kultureinrichtungen und Unternehmen. Sie sollten sich mit ihrem Handeln im Dritten Reich auseinandersetzen. Dabei geht es weniger um Schuld als um Verständnis: Was hat zu der Situation geführt? Was können wir tun, damit sich das nicht wiederholt? Das kann zum Beispiel durch Projekte geschehen, in denen die Biografien von verfolgten oder ermordeten Mitarbeitern aufgearbeitet werden, wie es die Münchner Kammerspiele gerade gemacht haben. Für Biografien interessieren sich auch junge Leute, die mit dem Geschichtsunterricht oft wenig anfangen können.
In den Schulklassen sitzen Kinder aus allen Ländern und Kulturen der Welt. Was sollen sie mit der deutschen Erinnerungskultur anfangen?
Annette Schavan: Bei Umfragen geben ja viele Schüler an, sie hätten noch nie etwas vom Holocaust gehört. Das kann aber nicht sein, weil er in allen Lehrplänen steht. Möglicherweise sagen die Kinder einfach: Das ist ja hier gewesen, aber ich komme aus Syrien. Ich denke, wir sollten uns für ihre Biografien und Gefährdungserfahrungen mehr interessieren und diesen Austausch auch in die Lehrpläne integrieren. Da stehen wir noch ganz am Anfang.
„Erinnerung an den Holocaust bleibt unsere erste Pflicht.“
Seit dem Ende der DDR ist auch die Aufarbeitung des SED-Regimes Teil der Erinnerungskultur, andere Themen wie der Kolonialismus aber nicht. Sollte sie sich nicht öffnen für andere kritische Kapitel der deutschen Geschichte?
Annette Schavan: Nein. Denn wir sollten nicht den Eindruck erwecken, als sei die Nazi-Barbarei ein Unheil neben vielen anderen gewesen. Damit relativieren wir diesen einzigartigen Zivilisationsbruch. Das heißt nicht, dass wir den Kolonialismus nicht aufarbeiten sollten. Aber Erinnerung an den Holocaust bleibt unsere erste Pflicht.
Die Millionen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg mussten mehr als 50 Jahre auf eine Entschädigung warten. Warum war selbst für viele Opfer lange kein Platz im offiziellen Gedenken?
Annette Schavan: Außerhalb der erwähnten Erinnerungsmilieus gab es viele Jahre einen breiten Konsens in der Gesellschaft, der besagte: Da müssen wir nicht drüber reden. Unternehmen fürchteten außerdem Klagewellen mit hohen Entschädigungsforderungen, wenn sie offen über die bei ihnen verrichtete Zwangsarbeit sprechen. Es brauchte erst einen von Staat und Wirtschaft gemeinsam finanzierten Fonds im Rahmen der dafür gegründeten Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", um das zu ändern. Der kam im Jahr 2000 tatsächlich sehr spät und für viele Opfer auch zu spät.
In der per Definition "antifaschistischen" DDR wurde die NS-Zeit kaum aufgearbeitet, die Bundesrepublik haderte lange mit dem richtigen Umgang. Gibt es heute eine gesamtdeutsche Erinnerungskultur?
Annette Schavan: In meiner Wahrnehmung ist das so. Und die junge Generation hat die DDR-Zeit ja überhaupt nicht erlebt. Sie muss wieder und wieder ihren eigenen Weg des Erinnerns finden, ihre Erinnerungskultur selbst gestalten. Dazu sollten wir sie ermutigen.
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