Birte Wassenberg im Interview : "Ein erster und wichtiger Schritt für die junge Republik"
Der Beitritt zum Europarat führte Deutschland zurück in die europäische Wertegemeinschaft. Die Historikerin Birte Wassenberg über alte Ziele und neue Themen.
Frau Wassenberg, am 15. Juni 1950 stimmte der Bundestag dem Beitritt Deutschlands zum Europarat zu, kurz darauf wurde es Mitglied der Menschenrechtsinstitution. Welche Bedeutung hatte das fünf Jahre nach Ende des Nationalsozialismus für den jungen Staat?
Birte Wassenberg: Es war ein erster und wichtiger Schritt, um sich nach dem Krieg wieder in Europa und den Westen zu integrieren und als vertrauenswürdiger Partner wahrgenommen zu werden. Deutschland unter der Bundesregierung von Konrad Adenauer (CDU) stand damals noch unter alliierter Besatzung, wurde deswegen erst einmal nur assoziiertes Mitglied. Der Beitritt sollte den Besatzungsmächten USA, Frankreich und Großbritannien zeigen: Die Bundesrepublik will in die europäische Wertegemeinschaft zurückkehren.
„Deutschland hat bewiesen, dass es Menschenrechte nicht nur auf dem Papier respektiert.“
Nach Ende der Besatzung wurde Deutschland im Mai 1951 Vollmitglied. Warum waren die Alliierten für eine Aufnahme Deutschlands?
Birte Wassenberg: Dazu muss man wissen, dass die Idee für den Europarat nicht auf die Regierungen zurückgeht, sondern auf die proeuropäische Bewegung, die ihre Vision eines vereinten Europas bereits zwischen den Weltkriegen formuliert hatte. Ihnen gehörten auch viele Deutsche an. Nach Ende des Zweiten Krieges warben sie bei den Regierungen für ein neues Europa auf der Basis von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. Damit gaben sie den wichtigen Impuls für die Gründung des Europarates am 5. Mai 1949. Die Proeuropäer waren der Meinung, dass die erste europäische Institution nach 1945 nur bestehen kann, wenn es zwischen Frankreich und Deutschland Aussöhnung und Verständigung gibt. Das unterstützte der damalige französische Außenminister Robert Schuman gegen antideutsche Stimmen, die einen solchen Versöhnungsprozess ablehnten. Frankreich und Großbritannien sahen in der Westbindung Deutschlands auch die Möglichkeit, die Bundesrepublik besser kontrollieren zu können.
In Deutschland gab es auch Gegner des Beitritts, der Abstimmung im Bundestag ging eine kontroverse Debatte voraus. Welche Argumente führten die Kritiker an?
Birte Wassenberg: Einige Abgeordnete fürchteten, dass die mit dem Beitritt zum Europarat verbundene Westbindung der Bundesrepublik eine Wiedervereinigung beider deutscher Staaten erschweren würde. Ein Argument, das auch später oft bemüht wurde, beispielsweise 1963 beim Freundschaftsvertrag zwischen Deutschland und Frankreich. Es gab damals in und außerhalb Deutschlands durchaus Sympathien für die Idee eines neutralen Deutschlands in Europas Mitte. So bot der sowjetische Diktator Josef Stalin den Westmächten 1952 in der "Stalin-Note" eine solche Neutralisierung an. Doch die trieben die Westbindung voran. Mit Blick auf den Europarat war es allerdings falsch, ihn einfach in den "Westblock" einzuordnen. Die Organisation selbst hat immer wieder betont, dass sich nicht gegen den Osten richtet. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs öffnete er sich auch weit nach Osten.
Was hat Deutschland in den 75 Jahren seiner Mitgliedschaft im Europarat erreicht?
Birte Wassenberg: Deutschland ist ein wichtiger und zuverlässiger Partner geworden und hat sich in Straßburg während des Kalten Krieges unter anderem für die Annäherung zwischen Ost und West eingesetzt. Es ist auch finanziell einer der größten Unterstützer, zahlt seit 2019 zum Beispiel hohe freiwillige Beiträge in den Ukraine-Aktionsplan ein. Die Bundesrepublik ist von Beginn an allen Konventionen zum Schutz von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit wie der Europäischen Menschenrechtskonvention (EKMR) von 1950 beigetreten und seit 1959 Mitglied im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der die Einhaltung EKMR sicherstellt. Deutschland hat bewiesen, dass es Menschenrechte nicht nur auf dem Papier respektiert, sondern sich der Kontrolle durch die Instanzen des Europarates unterwirft.

Kontroverse Bundestagsabstimmung über den Beitritt zum Europarat: 218 Abgeordnete votierten im Juni 1950 dafür, 151 dagegen, neun enthielten sich.
Diese Kontrollen haben Deutschland schon mehrmals Ärger eingebracht. So rügte das Anti-Folter-Komitee 2019 Gewaltanwendung bei der Abschiebung von Migranten.
Birte Wassenberg: Ich finde das grundsätzlich positiv, denn es zeigt, dass die Institution funktioniert. Der Europarat deckt Missstände auf, die es natürlich auch in gefestigten Demokratien wie unserer gibt, und prangert diese an. Die öffentliche Berichterstattung darüber erzeugt Druck und die Mitgliedstaaten müssen sich in den Gremien des Europarats erklären und Gegenmaßnahmen vorlegen. Deren Umsetzung wird kontrolliert. Für die Öffentlichkeit ist diese Arbeit oft unsichtbar, aber sie findet statt und führt zu Verbesserungen.
Unter den 46 Mitgliedstaaten sind auch Länder wie Ungarn, die Türkei und Aserbaidschan, die Grundrechte missachten und die Urteile des EGMR ignorieren. Was kann der Europarat dagegen tun?
Birte Wassenberg: Er kann Delegationen in der Parlamentarischen Versammlung, wie bei Russland und Aserbaidschan geschehen, suspendieren, aber das beeindruckt diese Staaten nicht unbedingt. Er kann Gesetzesmaßnahmen wie die Justizreformen in Polen und Ungarn zwar verurteilen, aber keine Strafen oder Sanktionen verhängen. Um mehr Druck zu erzeugen, könnte die Einführung von Sanktionen daher sinnvoll sein. Dringend erforderlich wäre auch ein höheres Budget, um den Europarat weiter zu stärken.

Russland wurde kurz nach dem Angriff auf die Ukraine im März 2022 als erstes Mitglied überhaupt aus dem Europarat ausgeschlossen. Russische Bürger können damit nicht mehr vor dem EGMR klagen. War dieser Schritt wirklich sinnvoll?
Birte Wassenberg: Mit dem Angriffskrieg hat Russland Völkerrecht gebrochen, das war eine rote Linie. Aber richtig ist auch: Nach einem Rausschmiss gibt es keine Gespräche mehr. Und Menschenrechtsorganisationen, die in Russland arbeiten, betonen seit Jahren, wie wichtig es für sie war, dass sie sich an den Europarat wenden und vor dem EGMR klagen konnten. Deswegen hat der Europarat nach der Besetzung der Krim 2014 so zögerlich reagiert und erst im letzten Moment diese Konsequenz gezogen.
Was bedeutet die russische Aggression für die Zukunft des Europarats? Gewinnt seine Arbeit wieder mehr an Bedeutung?
Birte Wassenberg: Das beobachte ich stark. So arbeitet die EU seit 2022 viel enger mit dem Europarat zusammen und finanziert zum Beispiel Kooperationsprogramme für Nicht-EU-Länder wie Aserbaidschan. Unter der Schirmherrschaft des Europarates wurde außerdem das Schadensregister für die Ukraine eingerichtet, damit sie später Schadenersatzansprüche geltend machen kann. Gerade erst wurde beim Gipfel des Europarates in Reykjavik die Einrichtung eines Sondergerichtshofs für den Ukraine-Krieg beschlossen. Und eine wichtige Frage ist ja: Was passiert mit Russland, wenn dieser Krieg und die Ära Putin irgendwann ein Ende finden? Der Europarat könnte dann die richtige Adresse sein, um wieder ins Gespräch zu kommen.
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