Ekaterina Schulmann im Interview : "Ein Mandat gilt heute als potenzielles Risiko"
Die russische Politologin Ekaterina Schulmann über die Rolle der Duma unter Putin, Kriegsgesetze am Fließband und Abgeordnete, die um ihre Existenz fürchten müssen.
Frau Schulmann, in den 1990er-Jahren war das russische Parlament, die Staatsduma, eine konkurrierende politische Arena. Unter Präsident Wladimir Putin dient es heute als "gesetzgeberisches Fließband". Wie ist es dazu gekommen?
Ekaterina Schulmann: Das hat mit der russischen Verfassung von 1993 zu tun, die aus einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Parlamentarismus heraus geschrieben wurde. Die Möglichkeiten der Duma, die Exekutive zu kontrollieren, waren von Anfang an minimal. Die Verfassung ist strukturell zugunsten der präsidentiellen Macht verzerrt. Der Präsident verfügte von Beginn an über weitreichende Kompetenzen gegenüber allen drei Gewalten: Er ernannte die Richter, die Regierung, während das Parlament lediglich ein Misstrauensvotum gegen die Regierung aussprechen konnte. Instrumente parlamentarischer Kontrolle waren nicht in die verfassungsrechtliche Architektur eingebaut. Trotzdem war die Staatsduma in der ersten, zweiten und dritten Legislaturperiode politisch vielfältig und durchaus in der Lage, mit der Exekutive zu verhandeln.
Warum hat sich das geändert?
Ekaterina Schulmann: Der verfassungsrechtliche Rahmen hat das heutige Ergebnis nicht zwingend festgelegt. Die Verfassung wurde mehrfach geändert und alle Änderungen zielten darauf ab, die präsidentielle Macht weiter zu stärken und zu konsolidieren. Dabei hätte die Entwicklung auch in eine andere Richtung gehen können: bei einer anderen Zusammensetzung des Parlaments oder wenn ein energischer parlamentarischer Führer aufgetreten wäre, der eine nicht-loyalistische Partei hätte aufbauen können. Der anfängliche Machtüberhang des Präsidenten erleichterte jedoch genau diese Entwicklung der Staatsduma. Putin hat die Möglichkeiten genutzt, die ihm mit der Verfassung gewissermaßen geschenkt wurden.
Allein im ersten Jahr des Angriffs auf die Ukraine verabschiedete die Staatsduma eine Rekordzahl von 653 Gesetzen. Der Begriff des "rasenden Druckers" ist jedoch bereits seit etwa 2012 mit dem russischen Parlament verbunden. Welchen qualitativen Wandel sehen Sie?
Ekaterina Schulmann: Der Drucker druckt, was man ihm schickt. In der sechsten Legislaturperiode von 2011 bis 2016 kamen die Vorlagen vor allem aus der Exekutive, aus dem finanz- und wirtschaftspolitischen Block der Regierung, gelegentlich auch aus den Regionen. Heute hat sich die Zahl der Interessengruppen, die ihre Gesetzesinitiativen durchbringen können, deutlich verringert. Zu den zentralen Gesetzgebern sind die Sicherheitsbehörden geworden: der Inlandsgeheimdienst FSB, das Innenministerium, das Verteidigungsministerium. Und die Gesetzgebung ist überwiegend repressiv. Durch die Duma läuft eine enorme Zahl von Gesetzen, die unmittelbar der Kriegsführung dienen.
Können Sie Beispiele nennen?
Ekaterina Schulmann: Unter anderem wurde das Wehrpflichtalter von bislang 18 bis 27 Jahre auf 18 bis 30 Jahre angehoben, zugleich verschärfte die Duma die Sanktionen für Wehrdienstentziehung und das Nichtbefolgen einer Einberufung. Allein 2022 verabschiedete sie 139 Gesetze zur sogenannten militärischen Spezialoperation und zur Unterstützung der Kriegsteilnehmer. Eine der Hauptbeschäftigungen der Duma seit September 2022 ist die ständige Erfindung von Alternativen zur Mobilmachung, um den Bedarf an Soldaten an der Front zu decken. Die Mobilmachung war eine äußerst traumatische Erfahrung für die russische Gesellschaft; deswegen wollte man sie keinesfalls wiederholen. Entstanden ist ein äußerst vielfältiges Instrumentarium: enorme Zahlungen, Vergünstigungen und Privilegien für Teilnehmer der so genannten militärischen Spezialoperation und ihre Familien - und zugleich die Beseitigung sämtlicher Hürden für den Abschluss eines Vertrags mit der Armee. Heute sind weder Bildung noch militärische Erfahrung noch Straffreiheit erforderlich. Praktisch jedes lebende Wesen ab 18 Jahren kann in Russland zum Militär gehen.
„Autokratien bewahren die Fassade demokratischer Institutionen sehr sorgfältig.“
Segnet die Duma bereits getroffene Entscheidungen nur noch ab?
Ekaterina Schulmann: Ja, das ist ein Merkmal autoritärer politischer Systeme. In jedem Entscheidungsprozess gibt es sogenannte Bottlenecks oder Veto Points - also Stellen, an denen Zustimmung notwendig ist. In Demokratien sind diese Stellen über die gesamte Entscheidungskette verteilt und öffentlich sichtbar: parlamentarische Debatten, öffentliche Anhörungen, Diskussionen in den Medien. Die Gesellschaft sieht, dass eine Entscheidung diskutiert, verändert oder gestoppt werden kann. In Autokratien sind diese Veto-Points maximal intransparent und treten möglichst früh im Prozess auf. Die parlamentarische Phase ist dagegen öffentlich. Wenn ein Gesetzentwurf es bis ins Parlament geschafft hat, wird er mit Sicherheit verabschiedet. Die Duma wird daher auch als "Gummistempel" bezeichnet. Auf diese Weise vermeiden Autokratien politische Verantwortung und erzeugen den Eindruck von Einigkeit. Der eigentliche Machtkampf findet hinter verschlossenen Türen statt.
Bei der Verabschiedung des Haushalts für 2025 nahm die Duma in einer der Lesungen ein Dokument ohne eine einzige Änderung an. Sie haben das als beispiellos in der Geschichte des russischen Parlamentarismus bezeichnet.
Ekaterina Schulmann: Die Regierung hat den Haushalt Ende 2025 noch einmal neu geschrieben, was an sich schon unerhört ist: Am Ende des Haushaltsjahres legte die Regierung faktisch eine neue Version des Haushaltsentwurfs vor. Doch das Parlament hat selbst in der zweiten Lesung nicht einmal versucht, eine einzige Änderung einzubringen. Das war in doppelter Hinsicht ein noch nie dagewesenes Ereignis.
Wenn die Staatsduma ein rein dekoratives Parlament ist, warum braucht Putin sie überhaupt?
Ekaterina Schulmann: Autokratien bewahren die Fassade demokratischer Institutionen sehr sorgfältig. Erstens zur Demonstration von Normalität - sowohl nach außen als auch nach innen: "Bei uns ist alles wie bei normalen Menschen." Zweitens ist das Parlament ein Instrument zur Balance von Interessen innerhalb der herrschenden Bürokratie: Dem einen gibt man ein Mandat, dem anderen nimmt man es weg. Parlamentssitze sind eine Form der Belohnung für Loyalität. Drittens sind Wahlen ein Loyalitätstest. Die Bürokratie muss Wahlkampagnen organisieren und damit ihre Funktionsfähigkeit unter Beweis stellen. Und die Wähler müssen an diesen Loyalitätsschauspielen teilnehmen. Und noch etwas: Wenn restriktive Gesetze verabschiedet werden, heißt es: "Die Staatsduma hat verboten." Wenn hingegen etwa der Mindestlohn erhöht wird, dann ist es immer der Präsident. Dabei steht unter allen Gesetzen seine Unterschrift. Die Abgeordneten fungieren als Clowns, über die man schimpfen darf. Damit der Wähler nicht auf die Idee kommt, darüber nachzudenken, wer diese ganze Maschine eigentlich wirklich antreibt.
2026 finden in Russland Parlamentswahlen statt. Was erwarten Sie davon?
Ekaterina Schulmann: Es wird zunehmend schwierig, Kandidaten für ein Abgeordnetenmandat zu finden. Früher kandidierten für regionale Parlamente und die Staatsduma vor allem Beamte und Unternehmer: Ein Mandat galt als prestigeträchtig, bot Immunität und Karrierechancen.
„Das Mandat schützt nicht mehr, sondern ist mit zusätzlichen Risiken behaftet - von außen wie von innen.“
Und heute?
Ekaterina Schulmann: Gilt ein Mandat als potenzielles Risiko. Die Teilnahme am Wahlkampf bringt zahlreiche Einschränkungen mit sich, gewählte Abgeordnete geraten unter Sanktionen, Vermögenswerte im Ausland sind faktisch nicht zugänglich. Zugleich steht die regionale Nomenklatura unter wachsendem Druck der Putin-Administration und muss strafrechtliche Verfolgung fürchten. Das Mandat schützt nicht mehr, sondern ist mit zusätzlichen Risiken behaftet - von außen wie von innen. Das Parlament ist so zur Endstation politischer Karrieren geworden. Die neunte oder zehnte Legislaturperiode der Staatsduma wird Zeugin des Verfalls des aktuellen politischen Modells und des schrittweisen Abgangs der heutigen Führung sein.
Wie wird sich das Parlament in diesem Fall verhalten?
Ekaterina Schulmann: Darauf habe ich keine Antwort. Doch in Phasen, in denen personalistische Regime zu zerfallen beginnen, können kollektive Organe wie die Staatsduma plötzlich Subjektivität erlangen. In der Politikwissenschaft spricht man von der Aktivierung schlafender Institutionen. Das geschieht nicht zwingend, aber diese Option existiert. Die Kehrseite der Effizienz personalistischer Modelle ist ihre Fragilität. Sie sind effizient, weil sie auf der Grundlage persönlicher Absprachen funktionieren. Doch diese Absprachen überleben ihre Träger nicht. Kollektive Körperschaften sind stabiler. Sie können lange in Paralyse verharren - und dann alle überraschen.
Was hindert die Staatsduma daran, schon heute "aufzuwachen"?
Ekaterina Schulmann: Die Abgeordneten geben ihre Befugnisse freiwillig aus der Hand und stimmen, trotz weiterhin weitreichender Befugnisse, wie man es von ihnen verlangt - im Tausch für die Zugehörigkeit zum System. Diese Zugehörigkeit ist ihr ganzes Leben, bisher galt für sie: Sie sind Nomenklatura, wer dazugehört, dessen Existenz ist abgesichert. Auch wenn das heute, wie schon erwähnt, nicht mehr der Realität entspricht und die Abgeordneten hohen Risiken ausgesetzt sind: Sie haben nichts außer dieser Zugehörigkeit, und sie ist ihnen teurer als das Leben selbst. Sie sind keine Abgeordneten, sondern Ernannte.
Die Autorin ist in Moskau geboren und heute freie Journalistin und Autorin in Deutschland.
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