
Ökonom Sergej Alexaschenko im Interview : "Westliche Politiker täuschen sich gerne selbst"
Der frühere russische Vize-Zentralbankchef Alexaschenko ist skeptisch ob neuer EU-Sanktionen gegen Moskau. Um Russland zu schwächen, brauche es andere Maßnahmen.
Herr Alexaschenko, im Westen ist die Vorstellung verbreitet, Russland gehe es eigentlich schon schlecht, man müsse nur den Druck erhöhen, dann werde Präsident Putin in der Ukraine einlenken. Ist das so?
Sergej Alexaschenko: Wäre die russische Wirtschaft ein Mensch, könnte man sagen, seine Körpertemperatur liegt bei 37,8 Grad. Der Mensch merkt, dass etwas nicht stimmt mit ihm, seine Produktivität sinkt ein wenig, aber das hindert ihn nicht daran, weiterzuleben und zu arbeiten. Russland exportiert Rohstoffe, die Nachfrage in der Welt wächst stetig, normal wäre also ein Wachstum von drei bis vier Prozent, stattdessen rutscht die Wirtschaft in die Stagnation. Bei "Normaltemperatur" wäre eine Inflation von vier Prozent zu erwarten, aber tatsächlich liegt sie bei acht, zehn oder zwölf Prozent. Weder das eine noch das andere bringt die Wirtschaft jedoch an den Rand einer Katastrophe.

Zuletzt wurde über zunehmende Haushaltsprobleme berichtet - wegen der hohen Kriegsausgaben...
Sergej Alexaschenko: Russland finanziert den Krieg in erster Linie nicht durch Kredite, sondern durch Steuern der Bürger und der Privatwirtschaft. Auf diese Weise bleibt das Defizit mit weniger als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) recht niedrig. Im globalen Vergleich ist so ein Wert völlig in Ordnung. Laut Statistikamt wächst das Einkommen der Bevölkerung, die Regierung hat genug Geld, um den Krieg zu finanzieren - und sogar noch etwas übrig, um die Ausgaben für Sozialprogramme zu erhöhen. Ja, die Investitionsausgaben müssen gekürzt werden, und das Haushaltsdefizit in den Regionen ist etwas höher als vor dem Krieg. Aber es ist keine Katastrophe. Die Herausforderungen, vor denen die deutsche Wirtschaft steht, sind bedeutend größer.
Selbst der russische Wirtschaftsminister hat zuletzt aber vor einer Rezession gewarnt...
Sergej Alexaschenko: Das hängt stark von den politischen Entwicklungen ab: Gibt es ein Abkommen zwischen Russland, der Ukraine und den USA? Erhöht oder senkt Putin die Militärausgaben? Eine Rezession ist für mich ein Minus von fünf bis zehn Prozent. Wenn wir aber wie im Fall Russlands von Prognosen von minus einem bis plus eineinhalb Prozent sprechen, ist das Stagnation, nicht mehr und nicht weniger.
Warum wird dann so viel über den anstehenden Zusammenbruch der russischen Wirtschaft gesprochen?
Sergej Alexaschenko: Weil sehr viele in Europa und den USA möchten, dass der Krieg von selbst endet, ohne dass dafür kostspielige und unangenehme Entscheidungen getroffen werden müssen. Westliche Politiker täuschen sich gerne selbst. Die sowjetische Wirtschaft brach zusammen, weil sie die Last der Militärausgaben nicht tragen konnte. Aber damals hatten wir eine Planwirtschaft. Die heutige russische Wirtschaft dagegen ist eine Marktwirtschaft; ihr Gleichgewicht wird durch den Marktmechanismus der Preisänderungen gewährleistet. Inflation ist schlecht, aber Inflation ist die Reaktion der Wirtschaft auf das Ungleichgewicht.
„Sanktionen und Zölle sind sinnlos, weil China und Indien nicht auf russisches Öl verzichten können.“
Wird nicht der Fachkräftemangel zum immer größeren Problem?
Sergej Alexaschenko: Es herrscht tatsächlich Arbeitskräftemangel, weil einige für höhere Löhne an die Front gehen und andere auswandern, aber die Wirtschaft reagiert darauf mit einer Erhöhung der Löhne. Das Durchschnittsgehalt liegt bereits über 100.000 Rubel - mehr als 1.000 Euro, was im Vergleich zu osteuropäischen Ländern sehr hoch ist.
Putin hat also aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion gelernt?
Sergej Alexaschenko: Ja. Und auch aus der Finanzkrise von 1998 - kurz vorher wurde er Direktor des Geheimdienstes FSB. Er hat diese destruktiven Prozesse miterlebt, bei denen wirtschaftliche Probleme zur Machtübergabe an die Opposition führen können. Putins Wirtschaftspolitik können sie nennen, wie sie wollen, aber er respektiert die freie Preisbildung. Er steht für sehr strenge Beschränkungen des Haushaltsdefizits und der Staatsverschuldung.
Die EU beschließt dieser Tage ihr 19. Sanktionspaket. Schaden die Sanktionen Russland?
Sergej Alexaschenko: Sanktionen funktionieren gut, wenn die ganze Welt beteiligt ist, und sie Exporte und Importe eines Landes begrenzen. Wenn aber Indien, China und viele andere Staaten an den Sanktionen nicht beteiligt sind, ist von vornherein klar, dass ihr Druck viel schwächer ist. Zudem: Drei Viertel der russischen Exporte bestehen aus Öl, Gas, Holz, Düngemitteln und Metallen - Waren also, ohne die die Weltwirtschaft nicht leben kann. Russlands Beitrag zu den Ölverkäufen auf dem Weltmarkt liegt bei etwa 15 Prozent. Können Sie sich vorstellen, was es bedeutet, Russland vom globalen Markt zu nehmen? Was wird mit den Preisen passieren?
Aber stand Russland im ersten Kriegsjahr nicht vor dem Kollaps?
Sergej Alexaschenko: Die westlichen Sanktionen, die Beschränkung des Ölexports und die Preisobergrenzen haben bis Juni 2022 gut funktioniert. Das BIP fiel um zehn Prozent. Allerdings hat die Weltwirtschaft damals nicht aufgehört, russisches Öl zu kaufen. Es veränderten sich nur Logistik und Lieferketten: Das Öl muss jetzt eben nicht mehr 600 Kilometer transportiert werden, sondern 3.600 Kilometer. Russische Banken und Exporteure mussten ohne Dollar und Euro auskommen, also wurden alternative Zahlungssysteme aufgebaut, in Kryptowährung und anderen Währungen gezahlt. Man überredete Indien und China, mehr russisches Öl zu kaufen, versprach ihnen im Gegenzug Rabatte und baute eine Schattenflotte auf. Mitte 2022 beschloss Putin eine drastische Erhöhung der Militärausgaben, die aus zuvor angesammelten Reserven finanziert wurden - die Wirtschaft begann langsam zu wachsen. Es wurde klar, dass der Anstieg der Militärausgaben Putin nicht abschreckt und dass es unmöglich ist, ihn mit Sanktionen zu stoppen.
„Weder in den USA noch in Europa gibt es eine einzige ernsthafte Studie über die Auswirkungen der gegen Russland verhängten Sanktionen.“
Also kann sich die EU die Sanktionspakete auch sparen?
Sergej Alexaschenko: Mein Gefühl ist, dass die Verabschiedung jedes neuen Sanktionspakets nur zeigen soll, dass die europäische Bürokratie in Brüssel funktioniert - und dass wir die Ukraine unterstützen. Ob es der russischen Wirtschaft schadet, ist zweitrangig. Weder in den USA noch in Europa gibt es eine einzige ernsthafte Studie über die Auswirkungen der gegen Russland verhängten Sanktionen.
Spürt der gewöhnliche Russe die Sanktionen?
Sergej Alexaschenko: Er sieht es am Warenangebot in den Geschäften: Früher gab es europäische Marken, jetzt chinesische, türkische und vietnamesische. Aber beeinflusst das das Leben der Mehrheit der russischen Bevölkerung? Nein. Es gibt jetzt eben chinesische statt westlicher Autos, russische Möbel anstelle von IKEA, und anstatt von Coca-Cola ein Getränk in der Art von Coca-Cola. Das ist jetzt die Norm. Die Menschen haben die Sanktionen vergessen.
In den letzten Monaten scheint es eine neue Strategie zu geben: Die Ukraine greift die russische Ölproduktion an, zugleich erhöht der Westen den Druck auf Moskaus Ölexport. Kann das Erfolg haben?
Sergej Alexaschenko: Die einzige wirkliche Beschränkung gegen russisches Öl könnte eine physische sein: Man blockiert die dänischen Meerengen, damit Tanker, die Öl aus Primorsk transportieren, nicht mehr durchkommen. Mit so einer Seeblockade stoppt man die Hälfte des russischen Ölexports, und das wäre ein sehr schwerer Schlag für die Russland. Aber sind wir dazu bereit, dass die Weltmarktpreise auf 150 oder sogar 250 Dollar pro Barrel steigen? All die anderen Sanktionen und Zölle sind sinnlos, weil China und Indien nicht auf russisches Öl verzichten können. Wenn doch, müssten sie es im Nahen Osten kaufen - damit würden sie mit Europa konkurrieren und die Preise würden steigen.
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Und die Militärschläge auf Ölraffinerien?
Sergej Alexaschenko: Die Statistik in Russland wird geheim gehalten, wir wissen daher nicht genau, was vor sich geht. Die Intensität der Angriffe hat stark zugenommen, und in einer Reihe von Raffinerien wurde die Arbeit aufgrund von Reparaturen eingestellt. Moskau schränkt deshalb die Benzinexporte ein. Aber Russland produziert mehr als doppelt so viel Diesel und Heizöl, wie es verbraucht. Die Wirtschaft bricht nicht zusammen, wenn der Export um zehn oder 20 Prozent sinkt.
Sie glauben also nicht, dass Putin bald aufgrund von wirtschaftlichem Druck den Krieg beenden wird?
Sergej Alexaschenko: Dazu erzähle ich Ihnen eine bekannte russische Anekdote. Der Vater kommt nach Hause und sagt: Es gibt eine traurige Nachricht - der Wodka ist teurer geworden. Der Sohn fragt: Heißt das, dass du weniger trinken wirst? Nein, mein Sohn, antwortet der Vater, das bedeutet, dass du weniger essen wirst. Dies zur Frage, ob der Kreml den Krieg beenden wird, wenn im Haushalt das Geld für Armee oder Investitionen knapp wird. Im russischen Finanzministerium versteht man, dass dafür Geld benötigt wird. Deshalb wird eine Steuer auf Übergewinne der Banken und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer vorbereitet.
Und wohin fließt das Geld?
Sergej Alexaschenko: Diese Entscheidung trifft in Russland eine Person: Putin. Warum sollte er den Krieg beenden, der für ihn eine Sache des Prinzips ist? In seinem Kopf bedeutet eine Beendigung des Krieges nicht zu seinen Bedingungen, dass Russland verloren hat.
Der Autor ist freier Journalist in Berlin.