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Foto: picture alliance/dpa
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichtes wird sich die Wahlrechtsreform der Ampel vornehmen.

Zweitstimmendeckung und Grundmandatsklausel : Wahlrecht der Ampel vor Gericht

Das Bundesverfassungsgericht verhandelt über die Wahlrechtsreform der Ampel. Damit soll der Bundestag kleiner werden, doch Union und Linke wittern Verfassungsbruch.

18.04.2024
2024-04-18T16:46:31.7200Z
4 Min

Das Bundesverfassungsgericht befasst sich kommenden Dienstag und Mittwoch in einer mündlichen Verhandlung mit der Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition. Mit der am 17. März 2023 im Bundestag verabschiedeten Novelle wollen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP den Bundestag verkleinern. Die dazu verabschiedeten Maßnahmen sind aber verfassungsrechtlich umstritten.

Die Karlsruher Richterinnen und Richter haben die Frage zu beurteilen, ob die neu eingeführte Zweitstimmendeckung sowie die Streichung der Grundmandatsklausel mit der Wahlrechtsgleichheit (Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 Grundgesetz) sowie dem Recht auf Chancengleichheit der Parteien (Artikel 21 Absatz 1 Grundgesetz) vereinbar sind. Einige der klagenden Abgeordneten sehen sich zudem in ihrem Recht auf Beratung (Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz) verletzt. Eine Entscheidung wird diese Woche noch nicht fallen. Das Urteil wird für gewöhnlich einige Monate nach der mündlichen Verhandlung verkündet.

Gegen die Wahlrechtsreform ging ein ganzer Reigen von Klagen ein: Die Bayerische Staatsregierung sowie 195 Abgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben jeweils ein Normenkontrollverfahren angestrengt, die Parteien CSU und Die Linke sowie die einstige Bundestagfraktion Die Linke jeweils ein Organstreitverfahren. Hinzu kommen laut Gericht zwei weitere Verfassungsbeschwerdeverfahren von mehr als 4.000 Privatpersonen sowie Bundestagsabgeordneten der Partei Die Linke.

Immer wieder Streit über das Wahlrecht

Das Wahlrecht hat in den vergangenen Jahren immer wieder für erbitterten Streit im Bundestag gesorgt – denn es saßen immer mehr Abgeordnete im Bundestag als die eigentlich nach Bundeswahlgesetz vorgesehenen 598. Im 19. Deutschen Bundestag waren es beispielsweise 709, nach der Bundestagswahl im September waren es zunächst 736. Grund dafür sind Überhang- und Ausgleichsmandate. Gewinnt eine Partei in einem Land mehr Direktmandate mit der Erststimme, als ihr nach der Zweitstimme eigentlich zustehen, werden die so entstandenen Überhangmandate ausgeglichen. Die 34 Überhangmandate nach der Bundestagswahl im September 2021 führten so zu 104 zusätzlichen Ausgleichsmandaten.

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Die ehemaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble (beide CDU) bissen sich jeweils die Zähne aus, im Parlament eine einvernehmliche Lösung zu finden. Eine schließlich mit Mehrheit der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD im Oktober 2020 verabschiedete, von der damaligen Opposition um Grüne, FDP und Linke erfolglos beklagte Wahlrechtsform brachte nicht die erhoffte Wirkung. 

Ampel setzt Wahlrechtskommission ein

Unter den veränderten Vorzeichen einer Mehrheit der Ampelfraktionen setzte der Bundestag zu Beginn der neuen Wahlperiode die Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit ein. Das mit Abgeordneten und Sachverständigen besetzte Gremium befasste sich zum Beispiel mit dem Wahlalter und einer möglichen Paritätsregelung, aber vor allem mit dem Wahlrecht.

Relativ schnell wurde in der Kommission klar: Die Fraktionen der Ampel und die oppositionelle Unionsfraktion werden sich nicht einigen. Während die CDU/CSU-Fraktion ein sogenanntes „Grabenwahlsystem“ bevorzugte, das eine Trennung von der Erststimme im Wahlkreis und der Zweitstimme im Land vorgesehen hätte, setzte die Ampel auf eine Stärkung des Verhältniswahlprinzips in Form der Zweitstimme zulasten der Erststimme. Dieses Prinzip der Zweistimmendeckung fand sich dann auch in dem Gesetzentwurf der Ampelfraktionen, den der Bundestag schließlich verabschiedete – und kurz vor Schluss noch um die Streichung der Grundmandatsklausel ergänzte. 

Das aktuelle Wahlrecht: Die Zweitstimmendeckung kommt

Bei der kommenden Bundestagswahl wird es, wenn das Gesetz in Karlsruhe Bestand haben sollte, keine Ausgleichs- und Überhangsmandate geben. Stattdessen entscheiden die Zweistimmenergebnisse, wie viele Sitze eine Partei im Bundestag hat.

Gewinnt eine Partei in einem Land mehr Direktmandate als nach Zweistimme, gehen die Direktkandidaten mit den schwächsten Stimmergebnissen gegebenenfalls leer aus. Einige Wahlkreise werden dann keinen direkt gewählten Abgeordneten im Parlament haben. Damit die Zahl der „unbesetzten“ Wahlkreise möglichst gering bleibt, hat die Ampel die Größe des Bundestages ab der nächsten Wahlperiode auf 630 Abgeordnete erhöht, während die Zahl der Wahlkreise bei 299 bleibt.

Die Grundmandatsklausel fällt weg

Erst im parlamentarischen Verfahren entschieden sich die Ampel-Fraktionen dazu, auch die Grundmandatsklausel zu streichen – und führten verfassungsrechtliche Bedenken gegen ihr Fortbestehen zur Begründung an. Nach der Grundmandatsklausel zieht eine Partei, die die Fünf-Prozent-Hürde nicht überspringt, dann in den Bundestag ein, wenn es ihr gelingt, drei Direktmandate zu erringen.

Das ist der Grund, warum Die Linke im aktuellen Bundestag sitzt – und warum Die Linke nun zu den Klägern gehört. Die Streichung der Klausel könnte für die ohnehin gerade in einer existenziellen Krise befindliche Partei das bundespolitische Aus bedeuten. Auch die CSU hält wenig von der Neuregelung, lag sie mit ihrem bundesweiten Zweitstimmenergebnis in den vergangenen Jahre nur knapp über der Fünf-Prozent-Hürde. Würde die CSU die Hürde reißen, könnten dem Bundestag – selbst mit starken Ergebnissen in den Wahlkreisen – künftig keine Abgeordneten der Partei angehören.

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Nun sind die Karlsruher Richterinnen und Richter am Zug. Erste Maßstäbe für eine Beurteilung einer Wahlrechtsreform, etwa zu der Frage, inwiefern Bürgerinnen und Bürger eigentlich das Wahlgesetz verstehen müssen, legte der Zweite Senate Ende vergangenen Jahres in seiner Entscheidung zur Wahlrechtsreform der Großen Koalition dar. Einig war sich das Gericht dabei aber nicht, die Entscheidung fiel mit fünf zu drei Stimmen.