Gedenken an den DDR-Volksaufstand : Ein Ereignis, viele Deutungen
Der Bundestag hat des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 gedacht. Trotz historisch gesicherter Fakten gehen die politischen Interpretationen des Aufstands auseinander.
"Wir würdigen in erster Linie Hunderttausende mutige Ostdeutsche, die sich einer brutalen SED-Diktatur entgegenstellten." Mit diesen Worten eröffnete Kulturstaatsminister Wolfram Weimer am vergangenen Mittwoch die vereinbarte Debatte des Bundestags zum Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953. "Wir würdigen ihren Mut", so fuhr Weimer fort, "für ein besseres, für ein freies, für ein geeintes Deutschland einzustehen. Wir würdigen Dutzende Tote und 15.000 Verhaftete und all jene, die in den Kerkern der DDR ihrer Lebensjahre und Lebensträume beraubt und oft an Leib und Seele schwer verwundet wurden."

Demonstranten werfen am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin Steine auf einen sowjetischen Panzer. Die Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR kostete mindestens 55 Menschen das Leben.
Die historischen Fakten des 17. Juni 1953 sind gesichert. Und dennoch fallen die politischen Interpretationen jenes Aufstandes, der im Juni 1953 in Ostberlin zunächst als Protest von Arbeitern gegen die Erhöhung von Arbeitsnormen begonnen hatte, sich schließlich auf das gesamte Gebiet der DDR ausweitete, und in dessen Verlauf rund eine Million Menschen auch für die Ablösung der Regierung, freie Wahlen, Demokratie und die Einheit Deutschlands demonstrierte, bevor er von sowjetischen Truppen gewaltsam niedergeworfen wurde, auch rund 70 Jahre später höchst unterschiedlich aus.
Weimer moniert Liebäugeln mit “Putins Panzerstaat”
So schlug denn auch Kulturstaatsminister Weimer einen großen Bogen zu den aktuellen weltpolitischen Ereignissen. So wie Deutschland einst durch "eine Grenze zwischen Freiheit und Unfreiheit" geteilt gewesen sei, verlaufe diese Grenze heute an der "Front in der Ukraine, hervorgegangen aus einem ebensolchen Volksaufstand wie dem des 17. Juni, nämlich der Revolution auf dem Kyjiwer Maidan", argumentierte Weimer. Er fürchte, "dass manchem am rechten und linken Rand" der Sinn für "die Würde der Freiheit" abgehe. “Ich meine damit diejenigen, die mit Putins Panzerstaat insgeheim liebäugeln, weil ihnen in Wahrheit der Autoritarismus gefällt.”
Am angesprochenen "rechten und linken Rand" hat man jedoch andere Interpretationen parat. So scheute sich Götz Frömming (AfD) nicht, seine Partei in Tradition des 17. Juni zu stellen. Kulturschaffende in der DDR hätten die demonstrierenden Bürger damals als "westliche Agenten" oder "Faschisten" verunglimpft. Die private Notiz des Schriftstellers Bertolt Brecht - "Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?" - scheine heute für viele "auch wieder ein Gedanke zu sein, wenn sie auf die Wahlergebnisse der AfD im Osten blicken", führte Frömming aus und setzte hinzu: "Schlagen Sie sich das aus dem Kopf! Wir sind das Volk, und die AfD wird bleiben." Die Lehre aus dem 17. Juni müsse lauten: "Nie wieder Sozialismus!"
Gregor Gysi (Die Linke) wiederum stellte in den Raum, dass es zum 17. Juni "vielleicht" gar nicht gekommen wäre, wenn der Westen das Angebot der Sowjetunion für "gesamtdeutsche, international kontrollierte und geheime Wahlen" in einem neutralen Deutschland nach dem Vorbild Österreichs angenommen hätte. Doch Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) habe die "berühmte Stalin-Note" abgelehnt, weil ihm die Westintegration der alten Bundesrepublik wichtiger gewesen sei als die Einheit. "Das muss man einfach sagen", meinte Gysi. Die USA, Großbritannien und Frankreich hätten damals "dem deutschen Volk insgesamt noch kein Selbstbestimmungsrecht" zugebilligt, "weil die Zustimmung zu Hitler und zu seinen Verbrechen während der Nazizeit viel zu groß war", führte Gysi weiter aus und schloss seine Rede mit "Nie wieder Nazidiktatur!"
Der CDU-Abgeordnete Sepp Müller ordnete den 17. Juni dann wiederum als Aufstand der DDR-Bürger gegen "die Lüge einer sozialistischen Demokratie" ein. Vor allem aber sei er eine Ermunterung, für die Freiheit zu kämpfen. "Deswegen gilt: Nie wieder Nationalsozialismus! Nie wieder Sozialismus! Es lebe die Demokratie!", sagte Müller.
Kritik an Geschichtsklitterung und ritualisierter Erinnerungskultur
Paula Piechotta (Bündnis 90/Die Grünen) mahnte, die Erinnerungskultur zu stärken. Man müsse die Namen und die Schicksale der Opfer des 17. Juni 1953 kennen und benennen, um zu verhindern, dass Menschen wie der frühere SED-Funktionär Egon Krenz, der die DDR als "Friedensstaat" bezeichnet habe, und "Menschen ganz rechts hier in diesem Haus" den 17. Juni "verklären für ihre Erzählung und ihre Geschichtsklitterung". Piechotta monierte zugleich, dass der Campus für Demokratie in Berlin, das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation in Halle und die Freiheits- und Einheitsdenkmale in Berlin und Leipzig "immer noch nicht" realisiert worden seien.
Ganz ähnlich argumentierte der SPD-Abgeordnete Holger Mann. Angesichts des Umstandes, dass immer weniger Zeitzeugen lebten und fast die Hälfte der Deutschen mit dem 17. Juni "nichts mehr verbinden" könne, müsse die Erinnerungskultur in Deutschland überdacht werden; sie sei zu "ritualisiert". Ein Gedenken, "das die Herzen der Menschen nicht erreicht, droht zu erstarren", sagte Mann. Es müsse über andere Formen des Gedenkens - Videos in den sozialen Medien, Podcasts, virtuelle und audiovisuelle Stadtrundgänge oder auch die Verarbeitung in Computerspielen - nachgedacht werden. “Wir müssen nachkommenden Generationen Räume für eigenes Erinnern eröffnen.”
Mehr zur DDR-Geschichte

35 Jahre nach dem Umbruch in der DDR erinnert der Bundestag an den zentralen Beitrag der ostdeutschen Oppositionellen von 1989 zu Freiheit und Einheit.

Auf dem Weg zur friedlichen Revolution: Am 4. September 1989 protestierten erstmal DDR-Bürger nach Friedensgebeten in der Nikolaikirche gegen das politische System.

Vor 50 Jahren wurden die ersten West-Korrespondenten in Ost-Berlin akkreditiert. Für die Friedliche Revolution in der DDR spielten sie eine wichtige Rolle.