
Erinnerungskultur im Klassenzimmer : Projekte, Podcasts, Perspektivwechsel - wie Geschichte präsent bleibt
Geschichte und partizipatives Lernen zusammen denken – mit Empathie und Kreativität: Lehrerin Anette Heintzen über kluge Pädagogik, die Historie lebendig macht.
Frau Heintzen, Sie blicken auf über 30 Jahre Erfahrung als Geschichtslehrerin zurück. Worauf kommt es bei der Vermittlung des Themas "Zweiter Weltkrieg" vor allem an?
Anette Heintzen: Das A und O ist, Empathie zu schaffen. Egal, ob es um das Thema Zweiter Weltkrieg geht, oder, wie bei uns im Schwerpunkt, um die Verfolgung gesellschaftlicher Gruppen. Die Zeit ist sehr weit weg, die Relation geht oft verloren, weil heute viel parallel passiert. Gleichzeitig muss man sensibel mit Themen wie Krieg umgehen; wir haben zum Beispiel junge Menschen aus der Ukraine in unseren Klassen. Ich frage die Schülerinnen und Schüler oft zuerst, ob es in Ordnung ist, dass wir heute darüber sprechen - vielleicht ist ja zu Hause gerade etwas passiert.
Sie arbeiten viel mit praktischer Erinnerungs- und Projektarbeit. Wie gelingt es, ein Thema ins Jetzt zu holen?
Anette Heintzen: Es braucht einen persönlichen Bezug und Zugang. Schülerinnen und Schüler lernen sehr gut miteinander und voneinander, zum Beispiel mit digitalen Tools. Ich lege oft die Konzeption in ihre Hände: einfach mal machen lassen. Das erfordert viel Vertrauen, aber bisher sind immer ausgezeichnete Ergebnisse entstanden. Zum Beispiel unsere Aktion zum diesjährigen Holocaust-Gedenktag: Da wollten die Schülerinnen und Schüler eine eigene Form des Gedenkens umsetzen, es mal anders machen als sonst. Ich ermutige sie darin, denn sie sind diejenigen, die dafür sorgen müssen, dass dieser Teil der Geschichte präsent bleibt.

Die Idee war, ein konfrontatives Experiment zu starten, bei dem alle Schülerinnen und Schüler die Folgen von Ausgrenzung persönlich erleben und reflektieren konnten. Wie sah das konkret aus?
Anette Heintzen: Am 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, kam um 8.35 Uhr die Lautsprecherdurchsage, dass heute andere Zeiten angesagt sind: Eine Schülergruppe ging durch die Klassen und hat die Anwesenden - auch die Lehrkräfte - separiert. Für die Versammlung in der Turnhalle gab es Zugangsbeschränkungen und alle wurden willkürlich in verschiedene Felder in der Halle eingeteilt. Dieses Gefühl von Isolation zu erleben, war eine beklemmende Erfahrung. Je nach Klassenstufe muss man das natürlich didaktisch unterschiedlich vor- und aufbereiten und die Möglichkeit geben, darüber zu sprechen.
An Ihrer Schule gibt es regelmäßig die „Kritische Pause“. Kann man auch in der Pause Geschichte zum Gesprächsthema machen?
Anette Heintzen: Natürlich! Bei der Kritischen Pause auf dem Schulhof können alle mitmachen. Im Speakers-Corner-Stil kann es um gesellschaftliche Themen wie etwa Gewalt gegen Frauen gehen, oder jemand möchte über die aktuellen Entwicklungen in Afghanistan sprechen. Auch geschichtliche Themen kommen vor: Gedenktage sind ein Beispiel oder die Feier des Grundgesetzes zu seinem Geburtstag durch Schülervertretung und „Schule ohne Rassismus“-AG.
Steht hinter Ihrer Art der Geschichtsvermittlung auch die Idee, über den Lernort Schule hinaus in die Gesellschaft zu wirken?
Anette Heintzen: Ja, wir haben zum Beispiel einen Podcast über "Verborgene Geschichten" aus der NS-Zeit produziert oder einen Geocache, also eine Art moderne GPS-Schnitzeljagd, zu jüdischen Häusern in Traben-Trarbach, der nun in der Tourist-Information ausliegt - dazu gab es Rückmeldungen aus aller Welt. Wir haben so auch Kontakt zu Nachkommen ehemaliger jüdischer Bewohner aus der Gegend bekommen.

Fünf Bleche Kuchen für 75 Jahre Grundgesetz: Anfang Juni 2024 fand am Gymnasium Traben-Trarbach ein Aktionstag zu „Schulen für Demokratie und Vielfalt“ statt, für den die Schülervertretung und die "Schule ohne Rassismus"-AG verschiedenste Aktionen vorbereitet hatten.
Eine Umfrage der Jewish Claims Conference ergab, dass gut jeder zehnte junge Erwachsene in Deutschland noch nie etwas von den Begriffen Holocaust oder Shoa gehört hat. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Anette Heintzen: Ich habe danach in meinen Klassen gefragt. Sie haben mir zu verstehen gegeben, dass es nicht daran liegt, dass sie das nicht wissen, sondern dass sie angesichts der Fülle der Informationen nicht jeden Begriff abspeichern - würde man sie hingegen nach Details zur Verfolgung in der NS-Zeit fragen, könnten sie viel dazu erzählen.
Was halten Sie von Forderungen aus der Politik, den Besuch einer KZ-Gedenkstätte für Schulen verpflichtend zu gestalten?
Anette Heintzen: Viele Schülerinnen und Schüler finden das prinzipiell gut, haben aber Anmerkungen: Zum Beispiel, dass genau geschaut werden muss, in welchem Alter das stattfinden soll. Auch die Art der Vermittlung vor Ort, Interaktives und kreative Aktionen, ist für viele entscheidend. Einige finden allerdings, dass das nicht von der Politik verordnet werden muss. Mir geht es da ähnlich: Ich wehre mich innerlich gegen den Begriff „verpflichtend.“ Es ist sehr sinnvoll, so einen Ort einmal kennengelernt zu haben, sehr viele Schulen, auch unsere, machen das schon viele Jahre regelmäßig.
Sie haben auch Schüleraustausche ins europäische Ausland organisiert, zum Beispiel zur deutschen Besatzung in Griechenland. Was können solche Austausche leisten?
Anette Heintzen: Sie prägen für das Leben. Reisen und Austausche helfen, unterschiedliche Perspektiven auf ein Thema besser nachvollziehen zu können. In Schulbüchern findet sich sehr wenig zu diesem Kapitel der Geschichte. Unser Besuch im griechischen Dorf Distomo, in dem im Juni 1944 bei einem Massaker 218 Einwohner starben, war sehr eindrücklich für meinen Leistungskurs Geschichte. Das Zeitzeugengespräch mit Argyris Sfountouris, der das Massaker als Kleinkind überlebte, wird wohl niemand vergessen können. Ich kann jedem Kollegen und jeder Kollegin nur empfehlen, die Chance eines Erasmus-Austauschs zu nutzen.
Was beschäftigt Sie persönlich derzeit?
Anette Heintzen: Im Moment habe ich große Bedenken ob der Rückschritte. Wenn ich sehe, dass so viele Menschen wieder sagen, wir müssen uns abschotten, dass Nationalismen wieder auf dem Vormarsch sind – da blutet mir das Herz. Ich würde mir zudem wünschen, dass wir die Schule noch mehr öffnen, damit wir uns weiterentwickeln können: Weg von starren Lehrplänen zu mehr fächerübergreifendem Lernen, um das große Ganze zu verstehen.
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