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Foto: picture-alliance/Bildagentur-online-Schoening
Das Kunstwerk "Grundgesetz 49" von Dani Karavan zeigt die in Glas eingravierten 19 Grundrechtsartikel im Berliner Parlamentsviertel.

Buchrezension : Menschenwürde: Normativer Anker in der politischen Kultur

"Die Würde des Menschen ist unantastbar", heißt es im Grundgesetz. Der Historiker Habbo Knoch zeichnet die Entwicklung des Begriffs der Menschenwürde nach.

11.09.2023
2024-02-29T10:41:59.3600Z
3 Min

Es sind zwei kraftvolle Sätze, die den Artikel 1 des Grundgesetzes bilden: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Für den Historiker Habbo Knoch waren sie Anlass, den Begriff der Würde historisch und politisch zu untersuchen. In seinem Buch "Im Namen der Würde" zeichnet er nach, wie die Idee einer von keiner staatlichen Gewalt anzutastenden Würde in den vergangenen Jahrhunderten entstand und wie sie sich seit 1949 zu dem aus seiner Sicht "wichtigsten normativen Anker der politischen Kultur der Bundesrepublik" entwickelte.

Das Grauen des Zweiten Weltkriegs und der millionenfache Mord in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern rückten das Ideal einer nicht anzutastenden menschlichen Würde sowohl international als auch in Deutschland in den Mittelpunkt politischer Diskussionen. "War bis 1945 von Würde in staats- und verfassungsrechtlichen Zusammenhängen kaum die Rede gewesen, hatte sie seit den letzten Kriegsjahren rasch Eingang in das Verfassungsdenken und viele Gesellschaftsmodelle gefunden", konstatiert der in Köln lehrende Knoch.

Der Begriff findet sich an zentralen Stellen in der Präambel der Vereinten Nationen von 1945 und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Beim Verfassungskonvent auf der Insel Herrenchiemsee im August 1948 war es unter den rund 30 Delegierten der von Bayern entsandte Staatsrechtler Hans Nawiasky, der vorschlug, die "Würde der menschlichen Persönlichkeit" in den Verfassungsentwurf aufzunehmen. Nawiasky war ein in Österreich geborener gläubiger Katholik jüdischer Abstammung, der die NS-Zeit im Schweizer Exil überlebt hatte. Die konkrete Formulierung, die zu Artikel 1 des Grundgesetzes wurde, fanden dann im Parlamentarischen Rat 1948/49 zwei aus Hessen stammende und miteinander befreundete Politiker: Georg-August Zinn (SPD) und der spätere Außenminister Heinrich von Brentano (CDU).

Was ist Würde?

Dabei ist der Begriff der Würde durchaus mehrdeutig. Denn zurückgehend auf die "dignitas" des römischen Adels blieb er bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ein Machtinstrument, das nach Knochs Worten "auf moderne Institutionen wie Staatsorgane, Parlamente oder Gerichte und deren Repräsentanten übertragen wurde". Auch im Deutschen Bundestag spricht man bis heute von der "Würde des Hauses".


„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Artikel 1 des Grundgesetzes

Doch schon im Humanismus und in der Renaissance entwickelte sich ein Verständnis von Würde, das nicht nur auf eine Institution oder die Macht des Staates, sondern auf das einzelne Individuum bezogen ist. Seit dem frühen 19. Jahrhundert gewannen dann laut Knoch "Begriff und Idee der Würde des Menschen" neben den liberalen Forderungen nach Bürgerrechten immer mehr an Kontur.

Der Nationalsozialismus und seine "Radikalisierung des biologistischen, eugenischen und antisemitischen Denkens bedeutete einen fundamentalen Angriff auf die Idee einer absoluten, inhärenten Würde" eines jeden Menschen. So war es folgerichtig, dass nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft die Würde des einzelnen Menschen in vielen grundlegenden politischen Dokumenten zum zentralen Begriff wurde.

Detailliert schildert der Historiker, welche Rolle die Frage der Würde später in den politischen Diskussionen in der Bundesrepublik, aber auch in der Bürgerrechtsbewegung der USA oder bei der Entkolonisierung spielte.

Schutzrechte des Individuums

In Deutschland habe sich dabei seit 1949 eine Wandlung vollzogen: Sei es zunächst um die Schutzrechte des Individuums gegenüber dem Staat gegangen, habe sich die Debatte seit den 1960er Jahren auf die Frage verlagert, wie sich der Anspruch auf persönliche Selbstverwirklichung realisieren lasse. Mittlerweile ist Knoch zufolge ein dritter "Begründungsbogen" dominant: Thematisiert werde die grundsätzliche Verletzbarkeit eines jeden Menschen, um auf dieser Grundlage "individuelle Spielräume im Zeichen von Respekt und Toleranz auszuhandeln". Aus seinem politischen Standpunkt macht der Autor dabei keinen Hehl. Gefahren für die Menschenwürde verortet er fast ausschließlich im rechten politischen Spektrum und stellt seinem Buch auch das Motto des Bündnisses zur zivilen Seenotrettung, United4Rescue, voran: "Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt."

Irritierend an Knochs Buch ist indes seine fast ausschließlich westdeutsche Perspektive. Die friedliche Revolution 1989, in der es ja ganz entscheidend um die Würde des Individuums gegenüber dem Kollektivismus der SED-Diktatur ging, wird bei ihm eher pflichtschuldig auf wenigen Seiten abgehandelt. Den Aufstand am 17. Juni 1953 beschreibt er nur als "Höhepunkt der gesamtdeutschen Opferrhetorik": Die Bundesregierung habe die Ereignisse für das eigene Ziel vereinnahmt, "die nicht als souverän anerkannte DDR zu überwinden". Mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung darf man von einem Historiker, der für sich beansprucht, eine deutsche Geschichte zu schreiben, doch ein wenig mehr Interesse für die Debatten und Geschehnisse im östlichen Teil des Landes erwarten.

Habbo Knoch:
Im Namen der Würde.
Eine deutsche Geschichte.
Hanser,
München 2023;
480 Seiten, 29,00 €