Chronik der DDR : Über Versuchungen und Verlockungen einer Diktatur
Christoph Heins fesselnder Roman "Das Narrenschiff" beschreibt die Geschichte der DDR aus der Sicht ihrer Gründer und Funktionäre.
Narrenliteratur, das ist eine ganz eigene Gattung, die Literaturgeschichte ist voll mit volkstümlichen Schelmen und Spaßvögeln: Eulenspiegel wäre hier zu nennen, die Schildbürger und natürlich die Passagiere auf Sebastian Brants "Narrenschiff". All diese Bücher waren Bestseller ihrer Zeit. Der Schriftsteller Christoph Hein hat den großen Titel des spätmittelalterlichen Vorbilds für seinen Roman entlehnt: Sein "Narrenschiff" segelt allerdings im 20. Jahrhundert unter schwarz-rot-goldener Flagge mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz in der Mitte.
Vom kommunistischen Anfang 1945 bis zum Abgang Honeckers
Hein, der auf eine Hälfte des Lebens in der DDR, eine zweite in Gesamtdeutschland zurückblickt, hat mit seinem großen DDR-Panorama-Roman ebenfalls einen Bestseller geschrieben. Das könnte an einem besonderen Reiz dieses fesselnden Buches liegen: Seine Hauptfiguren sind Gründer und Leistungsträger der DDR, Fleisch vom Fleische der Nomenklatura, beherzte Aufbauer des Sozialismus hinterm Stacheldraht. Dass es sich bei dem stolzen Staatsschiff in Wahrheit um ein Narrenschiff handeln könnte, dämmert den Figuren nur sehr langsam und erst nach vielen Schieflagen. Manchem dämmert es nie.

Das Wandbild "Aufbau der Republik" des Malers Max Lingner, entstanden zwischen 1950 und 1953, am Detlev-Rohwedder-Haus in Berlin, dem Amtssitz des heutigen Bundesfinanzministeriums.
Ein Zeitalter ist im "Narrenschiff" zu besichtigen, von der Ankunft der kommunistischen Gruppe Ulbricht 1945 in Berlin ("Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.") bis zu Honeckers Abgang und dem Endspiel im Jahr 1989. Es ist ein Politroman, eine Satire, zuweilen ein Politthriller und auch ein Schlüsselroman, in dem man altbekannte Zeitgenossen treffen kann. Markus Wolf, Chef der Auslandsaufklärung der Stasi, trägt hier zum Beispiel den Namen Fuchs. Wer mag, kann in der stets am Verstand des SED-Politbüros verzweifelnden und der Partei und der Sache am Ende aber doch stets verbunden Figur des Karsten Emser den Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski entdecken, der in der DDR seine begrenzte Narrenfreiheiten sichtlich genoss.
Heins Roman zeigt, wie die DDR die Menschen zur Unkenntlichkeit verbiegen konnte
Hein richtet über seine Figuren nicht, klagt sie nicht an, denunziert nicht ihr Streben nach Höherem und nimmt ihnen beim Straucheln im Irdischen nicht die Würde. Das Urteil bleibt in fast altmodischer Manier den Lesern überlassen. Aber der Autor unterschlägt nicht, dass sich diese Sozialisten von vielem anderen als der reinen Lehre leiten lassen: Opportunismus, Intrigen, Machtspiele, Seitensprünge, Sinn für exklusive Dinge, das Naschen von aller Art Neuheiten und Moden, das Faible für Gerüchte.

Christoph Hein:
Das Narrenschiff.
Roman.
Suhrkamp,
Berlin 2025;
750 S., 28,00 €
Die Gegenüberstellung des ganz banalen menschlichen Makels mit dem hochtrabenden Gesellschaftsentwurf erinnert an die Romane des ostdeutschen Schriftstellerkollegen Günter de Bruyn. Aber anders als de Bruyn, dem man beim Straucheln der Figuren verschmitzt über die Schulter zusieht, wirft Hein einen kühlen Blick auf seine Protagonisten.
Das "Narrenschiff" lässt sich als analytische Versuchsanordnung über Versuchungen und Verlockungen einer Diktatur lesen. Man kann den Aufstand der Arbeiter am 17. Juni 1953, an den in diesen Tagen wieder erinnert wird, als klare Widerlegung der SED und ihres Herrschaftsanspruchs deuten. Aber das erklärt noch nicht, wie dieser Staat sich auch danach noch Legitimation verschaffte und auch kluge und integre Menschen an sich zu binden verstand. Hein zeigt im "Narrenschiff" unterm Brennglas, wie der Staat diese Menschen bis zur Unkenntlichkeit verbiegen konnte.
Die DDR war für die Ewigkeit, aber dann war sie plötzlich weg
Die Gründer dieser DDR wollten so hoch hinaus, die alte Welt überwinden und im marxistischen Denken selbst noch die Geschichte. Die Art und Weise, wie der Roman diese Aufbaugeneration am Ende verstummen, im Nebel von Krankheit und Verfall verschwinden lässt, liest sich wie ein "Memento mori". Das ist im übertragenen Sinne übrigens eine verbindende ostdeutsche Erfahrung: Die DDR schien geschaffen für die Ewigkeit, aber dann war sie plötzlich weg.
Schließlich ist das "Narrenschiff" auch ein Generationenroman: Hein beschreibt, wie die Kindergeneration in den 1960er und 1970er Jahren in die Enge dieses Landes hineinwächst: "Und über uns schließt sich ein Himmel aus Stahl", so hat es der Schriftsteller und Funktionärsspross Thomas Brasch einmal beschrieben, als man ihn aus nichtigen Gründen zur Bewährung in die Werkhallen schickte. Am Ende steht der Enkelgeneration die Welt unverhofft offen. Doch 1989 ist nicht nur Hoffnung, Hein skizziert das schnörkel- und illusionslos: Die neue Zeit ist eine, in der das Grundbuch zählt und Erben aus dem Westen anreisen, um Immobilien im Osten in Augenschein zu nehmen.
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Am 4. November 1989 stand Christoph Hein übrigens als Redner auf der Tribüne, als auf dem Berliner Alexanderplatz eine Million Menschen gegen die SED-Führung demonstrierten. Hein verneigte sich in seiner kurzen Rede vor den Montagsdemos in Leipzig, er sprach von der "Vernunft der Straße", die dem Schlaf der Vernunft ein Ende bereitet hätte. Vor den Bürgern stehe harte Arbeit für Reformen und einen sozialistischen Staat, der diesen Namen verdiene. Wenige Tage später, als der SED-Funktionär Günter Schabowski mit einem Sprechzettel versehentlich die Mauer öffnete, war auch dieses Kapitel schon wieder Geschichte.