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Chemnitz ohne Filter : Von Räucherfiguren und rechten Rissen

Der Sammelband "Kulturhauptstadt Chemnitz 2025" gibt tiefe Einblicke in die Geschichte und soziologische Entwicklung von Stadt und Region.

14.05.2025
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5 Min

Es sind bemerkenswert offene Worte, mit denen sich Chemnitz um den Titel der diesjährigen Kulturhauptstadt Europas beworben hat. "Ein Ort, an dem demokratische Grundwerte (...) sichtbar unter Druck geraten sind" – so selbstkritisch stellte sich die Stadt in dem sogenannten "Bidbook" dar. Auf dem Cover der Bewerbung ist eine Titelseite der "New York Times" abgebildet, die sich 2018 mit den tagelangen Ausschreitungen in der Stadt befasst hatte: "Protestierender Mob demonstriert Stärke der extremen Rechten", war dort zu lesen.

Foto: picture alliance/dpa/Hendrik Schmidt

Mitglieder des Erzgebirgsensembles musizieren bei der Eröffnung des Kunstpfades "Purple Path", der Chemnitz mit 38 weiteren Gemeinden im Umland verbindet.

Wie ein roter Faden zieht sich der offene Umgang mit der Geschichte auch durch den Sammelband "Kulturhauptstadt Chemnitz 2025. Sozialräumliche Erkundungen", den die Chemnitzer Soziologen Ulf Bohmann und Thomas Laux zusammengestellt haben. Auf mehr als 350 Seiten blicken 30 Autoren aus ganz unterschiedlichen Winkeln auf die 250.000-Einwohner-Stadt. Von einer Hochglanzbroschüre ist das Buch so weit entfernt wie von einer Festschrift. Die Mehrzahl der Beiträge unternimmt stattdessen Tiefenbohrungen, die unterschiedliche Schichten einer seit Jahrzehnten von Zerrissenheit geprägten sächsischen Stadt freilegen.

Vier von zehn Sachsen glauben an politische Verschwörungen

Eins der fünf Kapitel heißt "Rechtsextremismus und Spaltung" und öffnet den Blick für gesellschaftliche Zustände über Chemnitz hinaus auf ganz Sachsen. Anhand von Studien wird der Zusammenhang zwischen dem Gefühl des Abgehängt-Seins, dem Vertrauen in demokratische Institutionen und Verschwörungsglaube nachgezeichnet. 

Wie eng dieser ist, macht ebenso wenig Mut wie das Ausmaß letzteren, das sich aus Erhebungen wie der "Autoritarismus-Studie" der Universität Leipzig und dem von der sächsischen Landesregierung in Auftrag gegebenen "Sachsen-Monitor" ablesen lässt. Rund vier von zehn Menschen im Freistaat glauben demnach an Verschwörungen in politischen Institutionen.


Ulf Bohmann, Thomas Laux (Hg.):
Kulturhauptstadt Chemnitz 2025.
Sozialräumliche Erkundungen.
Transcript,
Bielefeld 2024;
366 S., 19,90 €


Viele Beiträge schlagen jedoch auch optimistischere Töne an - und machen deutlich, welch großen Beitrag die Wissenschaft zur Gestaltung einer Kulturhauptstadt leisten kann. Denn ausnahmslos schreiben in dem Sammelband Soziologen, Kulturwissenschaftler, Historiker, Linguisten oder Erziehungswissenschaftler. Sie alle widmen sich Details und Entwicklungen in einer Stadt im sozialen und kulturellen Wandel, beschreiben die Rolle von Vereinen und der Zivilgesellschaft oder stellen eigene Projekte zur Kulturhauptstadt vor.

Ein bewusst mehrdeutiges Kulturhauptstadt-Motto

Deren Motto lautet "C the Unseen", und ist gezielt mehrdeutig gehalten. Denn liest man das C als Abkürzung für Chemnitz, verweist der Slogan auf eine - jenseits rechtsextremer Ausschreitungen - wenig bekannte Stadt. Liest man es als englisches "see" (sehen), appelliert es, das Ungesehene wahrzunehmen.

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Eine Studentengruppe der Interkulturellen Kommunikation wählte den zweiten Weg. Auf der Suche nach den wenig Gesehenen in Chemnitz und im Erzgebirge, wo Bergarbeiterfamilien seit Jahrhunderten Nussknacker und Räuchermänner fertigen, stellten sie fest: Bis heute werden ausnahmslos männliche Figuren gedrechselt und als Souvenir angeboten. Also entwickelten die Studenten vielfältigere Räucherfiguren: eine Musikerin und eine Professorin; eine queere Räucherfigur, der man ihr Geschlecht nicht ansieht; eine migrantische Pflegerin. Über letztere halten sie fest: "Mit der Darstellung einer jungen, coolen Frau, die die Pausen ihres stressigen Arbeitsalltags nutzt, um in einem mit Graffiti besprühten Chemnitzer Hinterhof eine Zigarette zu rauchen, möchten wir die vietnamesische Krankenschwester als wichtigen Teil einer alternden Stadt sichtbar machen und ihr ein kleines Denkmal setzen".

Spuren der Kolonialgeschichte in der einstigen Industriehochburg Chemnitz

Ein anderer Autor macht sich auf die Suche nach der bislang ungesehenen Kolonialgeschichte. Anders als in Städten, in denen seit Jahren postkoloniale Spaziergänge und ähnliches stattfinden, musste er in Chemnitz ganz von vorn beginnen. Doch natürlich wurde er auch in der einstigen Industriehochburg schnell fündig, unter anderem in Form von Presseberichten über sogenannte Völker- oder Menschenschauen aus dem 19. Jahrhundert. In einem heißt es: "Die schwarzen Gäste (...) lassen sich, weil die Menschenfresserei hier ja doch nicht angehen würde, einfach gekochten Reis vortrefflich schmecken."

Die beiden Beispiele zeigen nicht nur, wie vielfältig und ungewöhnlich die Beiträge des Sammelbandes sind. Sie machen auch deutlich, wie vielseitig und engagiert sich Menschen in Chemnitz mit Fragen rund um Transformation, Repräsentation und Inklusion auseinandersetzen. Wer die Kulturhauptstadt kennenlernen möchte, ob von zuhause oder vor Ort, ist mit diesem Buch schon einmal auf einem guten Weg.

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