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Gespräch mit Ex-EZB-Chefvolkswirt : "Das wäre der K-O-Schlag für Europa"

Jürgen Stark war schon 1992 dabei, als der Euro-Vertrag verhandelt wurde. Heute übt er harte Kritik an der Europapolitik und der EZB. Zugleich verteidigt er die EU.

24.05.2024
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Herr Stark, Sie waren dabei, als 1992 der Maastricht-Vertrag ausgehandelt wurde, der die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) begründete, die Basis für die Euro-Einführung 1999. Wie bewerten Sie den Euro heute?

Jürgen Stark: Wir haben heute eine andere Währungsunion und einen anderen Euro, als das 1992 im Maastricht-Vertrag konzipiert wurde. 1992 hatten sich die nationalen Regierungen auf klare Kriterien geeinigt, an die sich die Mitgliedsländer der WWU halten müssen: Staatsschulden von 60 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung und ein jährliches Defizit von maximal drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde das Verfahren später konkretisiert. Dazu kam die sogenannte No-Bailout-Klausel, nach der kein Staat für die Schulden anderer Staaten haftet.

Foto: DBT/Tobias Koch

"Europa hat einen großen Anteil an unserem Wohlstand in Deutschland", findet Jürgen Stark.

Das gilt aber doch immer noch, ist nur schwer umsetzbar.

Jürgen Stark: Nein. Schon 2005 haben Deutschland und Frankreich dem Stabilitätspakt einen schweren Stoß verpasst, seitdem hat es zahlreiche weitere Aufweichungen und fast jährlich neue Auslegungen gegeben. Vor 15 Jahren kam dann die europäische Staatsschuldenkrise. Da wurden die Euro-Rettungsschirme geschaffen, mit vielen hundert Milliarden Euro, um Euro-Staaten zu finanzieren, die aufgrund ihrer hohen Schuldenlast den Zugang zum Kapitalmarkt verloren hatten und sich deshalb nicht mehr finanzieren konnten. Seitdem gilt die No-Bailout-Klausel faktisch nicht mehr. Dazu kamen die Billionen schweren Käufe von Staatsanleihen, die der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) beschlossen hat, die letztlich auch dazu dienten, Länder mit Finanznöten herauszupauken. Auf die Kriterien zur Staatsverschuldung wurde dagegen kaum noch geachtet.

Wäre Deutschland ohne den Euro besser gefahren?

Jürgen Stark: Entscheidend ist das Gesamtbild von Binnenmarkt und Währungsunion. Eine ernstzunehmende Analyse führt sicher zu dem Ergebnis, dass Deutschland vom europäischen Integrationsprozess mit den Highlights Binnenmarkt und Euro per saldo insgesamt deutlich profitiert hat. Das gilt auch für viele andere Länder der WWU. Binnenmarkt und Währungsunion sind dabei untrennbar miteinander verknüpft. Europa hat einen großen Anteil an unserem Wohlstand in Deutschland. Das darf man nicht vergessen. Das darf man auch nicht gefährden. Ich warne vor politischen Stimmen, die den europäischen Integrationsprozess insgesamt in Frage stellen.

Wie gefestigt ist die Währungsunion?

Jürgen Stark: Wir sind möglicherweise einer neuen Staatsschuldenkrise in Europa näher als viele denken.

An welche Länder denken Sie da?

Jürgen Stark: Große Sorge bereitet Italien. Dort steigen die Staatsausgaben und die Staatsschulden liegen mittlerweile bei 140 Prozent des BIP. Auch Frankreich kann ein Problem werden, dort geht die Staatsschuldenquote in Richtung 115 Prozent. Der IWF erwartet, dass Paris bis 2029 ein sehr hohes jährliches Defizit von mehr als vier Prozent ausweisen wird. Es sind verstärkte Anstrengungen nötig, die Defizite zurückzufahren. Das ist allerdings angesichts der schwachen Wirtschaft und der großen Herausforderungen schwierig.

Foto: DBT/Tobias Koch
Jürgen Stark
beschrieb seine letzten eineinhalb Jahre als Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank (EZB) als "Leidenszeit". Deren Beschluss im Jahr 2010, Staatsanleihen von Euro-Krisenländern zu kaufen, war nicht in seinem Sinn. Im September 2011 zog er die Konsequenz und trat zurück. Der ehemalige Beauftragte für Wirtschaftsgipfel des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl gilt als Architekt des Euro-Stabilitätspakts.
Foto: DBT/Tobias Koch

Mit der AfD erklärt eine im Bundestag vertretene Partei das EU-Projekt als gescheitert. Manche Stimmen dort wollen zur Europäischen Gemeinschaft vor 1992 zurückkehren. Was halten Sie davon?

Jürgen Stark: Die europäische Integration ist nie linear verlaufen. Die Forderung nach Rückkehr vor 1992 können nur politische Kräfte in ihrer Programmatik stellen, die nicht in der politischen Verantwortung stehen. Würde man ernsthaft die EU rückabwickeln wollen zu einem Status vor 1992, wäre das der wirtschaftliche und politische K.-o.-Schlag für Europa. Es wäre eine Vernichtung von Wohlstand und des Friedensprojekts, das die EU immer noch ist. Die Partei, die Sie nennen, steht mit ihrer Forderung deshalb auch im Vergleich zu ihren Partnerparteien in Europa ziemlich alleine da. Auch in Frankreich spricht niemand mehr davon, den Euro abzuschaffen. Wer Verantwortung trägt, muss mit den jetzigen Gegebenheiten zurecht kommen und muss sehen, dass sich die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft verbessert. Das ist aber Aufgabe nationaler Politik, nicht europäischer.

In den vergangenen fünf Jahren hat die EU-Ebene aber viel Wirtschaftspolitik betrieben, etwa mit dem mehr als 750 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds Next Generation EU.

Jürgen Stark: Es sind ja inzwischen 807 Milliarden Euro. Man versucht wieder einmal mit viel Geld Probleme zu lösen. Solche Finanztransfers bringen nichts. Meist versickert das Geld irgendwo, bis hin zu kriminellen Kanälen. Wenn wir über Wettbewerbsfähigkeit in Europa sprechen, sprechen wir über die nationale Ebene.

Wie geht es Ihnen mit dieser inneren Spaltung - Sie verteidigen die EU, sind leidenschaftlicher Europäer, lehnen aber die Europapolitik der vergangenen 25 Jahre weit überwiegend ab.

Jürgen Stark: Meine Position lautet schlicht: zurück zu Maastricht! Maastricht war besser, als viele heute sagen. Das Konzept war konsistent. Es gab keine Lücken in den damaligen Regeln. Ich bin überzeugter Europäer, nur dorthin, wo wir Europa hingesteuert haben, sei es durch die Politik der EZB oder die dauerhaften Rettungsfonds für einzelne Staaten, das hat nichts mehr mit dem ursprünglichen Konzept zu tun. Die EZB ist über ihr Mandat hinausgegangen. Mit dem 2011 initiierten ESM wurde der Maastricht-Vertrag bewusst umgangen. Deutsche Europarechtler sprechen von einem kontinuierlichen Rechtsbruch in Europa. Mit welchem moralischen Anspruch tritt die EU-Kommission als Hüterin der Verträge eigentlich auf, wenn sie Mitgliedsländern im Osten Europas Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit vorwirft? Hier ist schon viel Doppelmoral im Spiel.


„Wenn wir heute nicht an die Defizite und Unzulänglichkeiten herangehen, werden wir später einen hohen Preis bezahlen.“
Jürgen Stark

Europa steht unter wachsendem außenpolitischen Druck. Ist da die ökonomische Debatte über ein paar Milliarden Euro für die Rettung von Euro-Staaten, die im Zweifel die EZB druckt, nicht kleinlich?

Jürgen Stark: Keineswegs. Es geht doch darum, ob damit die Strukturprobleme auf nationaler Ebene gelöst werden. Und das ist sicher nicht der Fall. Die Währungsunion fußt auf Regeln. Wenn man gegen diese Regeln verstößt, wird das in der Zukunft zu schmerzhaften Anpassungen führen. Deshalb ist es ein Problem, dass die EU-Kommission nicht klarer die Einhaltung der Haushaltsregeln durchsetzt, und dass der ESM Fehlanreize für die Mitgliedsstaaten der Währungsunion setzt, sich stärker zu verschulden, als es tragfähig ist. Wenn wir heute nicht an die Defizite und Unzulänglichkeiten herangehen, werden wir später einen hohen Preis bezahlen.

Welchen?

Jürgen Stark: Mario Draghi wurde einst gefeiert für seine berühmte Rede als EZB-Präsident, die EZB werde alles unternehmen, was nötig sei, um den Euro zu retten. Heute zahlen wir mit den massiven Bilanzverlusten der Zentralbanken den Preis für seine Politik.

Das Europäische Parlament hat in seiner letzten Sitzungswoche vor der EU-Wahl einer Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zugestimmt. Wie bewerten Sie das?

Jürgen Stark: Positiv daran ist, dass die Referenzwerte von 60 Prozent für die Staatsschuldenquote und drei Prozent für die Defizitquote erhalten geblieben sind. Aber an die Stelle des bisherigen Systems der multilateralen Überwachung der Schulden treten künftig die bilateralen Verhandlungen zwischen der EU-Kommission und den nationalen Regierungen. Das wird zu großer Intransparenz führen und zu einem weiteren Schuldenanstieg.

Die Maastricht-Idee, dass es Regeln für die Staatsschulden gibt, die überwacht werden, funktioniert nicht. Das ist wie ein Fußballspiel ohne Schiedsrichter.

Jürgen Stark: Es gibt einen Schiedsrichter, sogar zwei, nämlich die EU-Kommission und die nationalen Finanzminister in der Eurogruppe, aber die sind leider sehr schwach. Außerdem sollen hier Sünder über Sünder richten, das funktioniert in der Tat schlecht. Ich habe schon länger für einen unabhängigen Fiskalrat plädiert, an dessen Votum niemand vorbeikommt. Diesen gibt es zwar seit 2016, aber er ist lediglich beratend für die Kommission tätig, ohne tatsächlichen Einfluss.

Sollte dieser Fiskalrat dann auch ein Veto-Recht für die nationalen Haushalte haben?

Jürgen Stark: Nein. Das wäre natürlich ein zu starker Eingriff in die nationale Souveränität und das Haushaltsrecht der nationalen Parlamente. Es geht vor allem um Transparenz.


„Der Job wird schwieriger, und der EZB sind in solchen herausfordernden Zeiten bereits wiederholt große Diagnosefehler unterlaufen.“
Jürgen Stark

Was hilft es, wenn Regelbrüche transparent, aber am Ende nicht sanktioniert werden?

Jürgen Stark: Sie werden sanktioniert, und zwar über die Finanzmärkte, insbesondere wenn die Anleger transparente Informationen haben. Wer höhere Schulden hat, muss höhere Zinsen zahlen. Das ist ein scharfes Schwert, insbesondere in einem veränderten Zinsumfeld. Wir sehen das in Deutschland. Der Finanzminister musste 2021 3,5 Milliarden Euro an Zinsen zahlen, 2024 sind es schon 40 Milliarden. Länder, die nicht solide wirtschaften, werden an den Finanzmärkten bald noch viel höhere Zinsen zahlen müssen. Die ersten Schritte dabei werden übrigens veränderte Einstufungen der Rating-Agenturen sein.

Und WWU-Länder, die nicht gegensteuern, gehen eben pleite und müssen raus aus dem Euro?

Jürgen Stark: Nicht unbedingt. Der Anreiz wäre sehr groß, frühzeitig gegenzusteuern.

In den vergangenen 25 Jahren hat die EZB den Deutschen weniger Inflation gebracht also zuvor die Bundesbank. Woher kommen die Zweifel am Euro?

Jürgen Stark: Die EZB hat vom Ergebnis her in den ersten 20 Jahren einen guten Job gemacht und die Inflation unter zwei Prozent gehalten. Sie hat dabei allerdings auch von einem Globalisierungsschub profitiert. Große Länder mit vielen günstigen Arbeitskräften wurden in den Welthandel integriert. Die internationale Arbeitsteilung hat sich verstärkt. Das hat für günstige Herstellungskosten gesorgt. Dazu kam ein starker globaler Wettbewerb der Unternehmen. All das hat zu niedrigen Preisen und geringer Inflation beigetragen. Wir erleben seit vier bis fünf Jahren, dass sich das umkehrt. Der Job wird schwieriger, und der EZB sind in solchen herausfordernden Zeiten bereits wiederholt große Diagnosefehler unterlaufen.

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Welche?

Jürgen Stark: 2014 hat die EZB eine große Deflation erwartet. Das war eine Fehleinschätzung. Die Reaktion auf diese Fehldiagnose waren die gigantischen Programme zum Ankauf von Wertpapieren, insbesondere Staatsanleihen, und Negativzinsen. Den Preis dafür bezahlen wir wie gesagt heute. 2021 und 2022 hat die EZB dann zu spät auf die erkennbar steigenden Preise reagiert.

Was dürfen die Bürger mit Blick auf Inflation und Zinsen erwarten?

Jürgen Stark: Kurzfristig dürften die Inflation und Zinsen im Euroraum sinken. Mittelfristig werden die Umkehr der Demografie, also die Alterung der europäischen Bevölkerung, und die Umkehr der Globalisierung bedeutend. Das heißt, das Angebot an Arbeitskräften in Europa sinkt, was zu höheren Löhnen und damit steigenden Preisen führen dürfte. Zugleich verlieren wir aufgrund der Geopolitik ein Stück weit die Vorteile großer integrierter Weltmärkte. Die Lieferketten werden kürzer, die Produktion wird teilweise aus Ländern mit niedrigen Arbeitskosten zurück verlagert. Auch das sorgt tendenziell für steigende Preise. Dazu kommt eine steigende nachfragegetriebene Inflation in den USA aufgrund der dortigen sehr hohen schuldenfinanzierten Ausgabenprogramme. Unterm Strich heißt das für die nächsten Jahre wahrscheinlich: höhere Inflation und höhere Zinsen.