
Marodes Schienennetz der Bahn : Mühsamer Weg aus dem Sanierungsstau
Mit Generalüberholungen sollten die wichtigsten Korridore des Schienennetzes bis Ende des Jahrzehnts modernisiert werden. Doch auch hier verspätet sich die Bahn.
Ein Zwischenhalt auf dem Hamburger Hauptbahnhof zeigt innerhalb weniger Minuten, wie schlecht es um die Deutsche Bahn bestellt ist und wie schön Bahnfahren sein könnte. Nervös ruft ein junger Mann seine jüngste Entdeckung am Fahrtanzeiger ins Handy: "Der Zug fällt aus." Wie er weiterkommen soll, weiß er augenscheinlich nicht. Schon kündigt auch die Bahnhofsansage den misslichen Umstand an. "Wir bitten um Entschuldigung", erklärt die sonore Stimme vom Band. Innerhalb weniger Minuten leistet die Bahn weitere Abbitten. Mal stört eine Baustelle eine Verbindung, mal fehlt das Personal für einen Zug: "Wir bitten um Entschuldigung."
Auf Gleis 5 wird derweil der ICE 699 nach Berlin bereitgestellt, heute die andere Seite der Bahn. Der Zug ist sauber, pünktlich und braucht nicht einmal zwei Stunden für die rund 280 Kilometer. So schön kann Bahnfahren sein, wenn einmal alles klappt. Mit dieser guten Erfahrung ist es allerdings erst einmal wieder vorbei. Denn die Strecke zwischen beiden Metropolen wird sieben Monate lang generalsaniert. Erst im Mai 2026 werden die Züge hier wieder rollen. Bis dahin dauern die Fahrten viel länger.
Stationen in Hamburg, Köln oder Frankfurt sind Quelle vieler Verspätungen
Doch zurück nach Hamburg. Am Gleis 8 des Hauptbahnhofs drängen sich die Reisenden Richtung Ausgänge. Der Bahnsteig ist nur wenige Meter breit; nicht nur zu Stoßzeiten wird es eng darauf. Täglich passieren rund eine halbe Million Fahrgäste die Station, die zu den meist frequentierten in Deutschland zählt.
Doch sind nicht nur die Bahnsteige durch Passagiere überlastet, sondern auch die Gleisanlagen durch viele Nah- und Fernverkehrszüge. Im Gegensatz zur Autobahn sieht man den Stau im Schienennetz nicht, der von den Knotenstationen ausgeht. Die Stationen in Hamburg, Köln oder Frankfurt sind eine Quelle vieler Verspätungen.

Überfüllte Bahnsteige: Zugreisende drängen sich Anfang vergangenen Monats auf einem der Bahnsteige im Hamburger Hauptbahnhof.
Im Fernverkehr kamen im Juni 2025 nicht einmal 63 Prozent der Züge pünktlich, also mit weniger als sechs Minuten Verspätung, an ihr Ziel. Die Deutsche Bahn hat sich für das laufende Jahr eine Pünktlichkeit von 65 bis 70 Prozent vorgenommen. So sieht es das Sanierungsprogramm S3 des Konzerns zumindest vor. Doch schon zum Halbjahr musste der Vorstand einräumen, dass allenfalls das untere Ende der Spanne erreicht wird.
Bis zu 1.000 Baustellen bringen den Bahn-Fahrplan täglich durcheinander
Das größte Problem sind die maroden Schienenwege. Mit teils 100 Jahre alten Stellwerken, fehlenden Überholgleisen oder überalterten Gleisanlagen lässt sich kein zuverlässiger Verkehr mehr durchführen. Täglich bringen bis zu 1.000 Baustellen den Fahrplan gehörig durcheinander. Auf den Hauptstrecken sind die Kapazitäten mehr als ausgelastet. Hier teilen sich Fern- und Nahverkehr oft noch Gleise mit dem Güterverkehr.
Gemeinsam hatten der frühere Verkehrsminister Volker Wissing und die Deutsche Bahn daher ein Sanierungskonzept ausgeheckt. Die wichtigsten Korridore sollen in den kommenden Jahren komplett modernisiert und dafür monatelang gesperrt werden. 41 Streckenabschnitte stehen auf dieser Liste. So soll ein modernes Hochleistungsnetz entstehen und einen pünktlichen Zugverkehr ermöglichen. Aber ist das realistisch?
Die Riedbahn wurde zum Symbol für die Modernisierung der Bahn
278 Kilometer Gleis liegen zwischen Hamburg und Berlin. Auf 180 Kilometern soll nun ab Anfang August alles rundum erneuert werden. Alle Schienen und 200 Weichen werden ausgetauscht, die Leit- und Sicherungstechnik ersetzt. Zudem gibt es zusätzliche Gleisabschnitte, in denen langsamere Züge das Überholen durch schnellere abwarten können.
Auch 28 Bahnhöfe entlang der Strecke werden mehr oder minder aufgehübscht. Eigentlich sollte auch das digitale europäische Zugsteuerungssystem ETCS installiert werden. Darauf verzichtet die Bahn jedoch inzwischen und bereitet dies nur technisch vor. 2,2 Milliarden Euro werden für die Bauarbeiten veranschlagt.
„Damit befinden wir uns auf dem Weg zu einer pünktlichen und zuverlässigen Eisenbahn.“
Noch ist von Baukränen, Materiallagern oder Wartungszügen nichts zu sehen. Doch im vergangenen Jahr ließ sich beim ersten sanierten Korridor, der Riedbahn zwischen Frankfurt am Main und Mannheim, gut beobachten, wie es hier aussehen wird. Die rund 70 Kilometer lange Verbindung ist eine der stärksten befahrenen Trassen Deutschlands. 360 Züge täglich transportieren Menschen und Güter. Fünf Monate lang war die Strecke gesperrt. 80 Prozent weniger Betriebsstörungen versprach die Bahn und damit pünktlichere Züge im ganzen Bundesgebiet.
Scheinbar endlos lange Montagemaschinen leisteten Schwerstarbeit. 380.000 Tonnen Schotter mussten auf das neue Gleisbett geschüttet, 265.000 Schwellen eingesetzt werden. Die Bauleute haben ihre Maschinen ehrfurchtsvolle Namen gegeben. "Katharina die Große" und "Heinrich der Starke" nahmen ihnen die härtesten Belastungen ab. Kräne hievten Brückenteile durch die Luft an die vorgesehenen Stellen. Die Riedbahn wurde zum Symbol für die Modernisierung der Bahn. "Damit befinden wir uns auf dem Weg zu einer pünktlichen und zuverlässigen Eisenbahn", sagte der damals noch amtierende Verkehrsminister Wissing zur Wiedereröffnung im Dezember 2024.
Sanierung der Riedbahnstrecke war dreimal teurer als kalkuliert
Doch der Lack hat schnell erste tiefe Kratzer bekommen. Einer sind die enormen Kosten. Mit 1,5 Milliarden Euro übersteigt die Endabrechnung die zunächst kalkulierten Ausgaben um das Dreifache. Schnell zeigte sich auch, dass die Riedbahn nach wie vor nicht gänzlich störungsfrei betrieben werden kann. Schließlich sorgte das noch nicht voll einsatzfähige Zugsteuerungssystem ETCS monatelang dafür, dass die Züge nur mit 160 Kilometern in der Stunde fahren dürfen, statt mit 200 km/h wie geplant.
Das sieht die für die Infrastruktur zuständige Bahntochter InfraGO anders. "Sechs Monate nach Abschluss des Pilotprojekts sind wir mit der Entwicklung sehr zufrieden", sagt deren Vorstandschef Philipp Nagl. Das Störungsvolumen sei um 60 Prozent zurückgegangen und die Pünktlichkeit auf dem richtigen Weg. Nun würden die Erkenntnisse aus dem Projekt auf die weiteren anstehenden Generalsanierungen übertragen.
Wettbewerber der Bahn sprechen dagegen von einer unangemessenen "Gute-Laune-Bilanz". Die Kostensteigerung auf das Dreifache sei nicht erklärt, kritisiert Peter Westenberger vom Verband "Die Güterbahnen". Er hält es auch für nicht akzeptabel, dass die Störanfälligkeit weit unter dem angekündigten Ziel geblieben ist. Es mangele an Transparenz und Aufarbeitung, konstatiert er.
Letzteres hat sich die neue Bundesregierung vorgenommen. Ein erstes wichtiges Ergebnis daraus: Der Zeitplan für die Generalsanierungen wird gestreckt. Es wird weniger gebaut. Das Hochleistungsnetz wird erst mit sechs Jahren Verspätung 2036 stehen. Auch hinter diesen Zeitplan gehört ein Fragezeichen. Schließlich lehrt die Erfahrung, dass als sicher versprochene wichtige Verbindungen deutlich größere Verzögerungen mit sich brachten.
45 Jahre nach dem Baubeschluss soll die Rheintalstrecke fertig sein
Zum Beispiel die Rheintalstrecke nach Basel. 1996 vereinbarten die Schweiz und Deutschland den viergleisigen Ausbau der stark frequentierten zweigleisigen Verbindung. Während die Schweiz ihre Hausaufgaben dafür erledigt hat, verzögerten sich auf deutscher Seite die Arbeiten immer weiter. 2041 wird derzeit als Fertigstellungsjahr angepeilt.
Kritiker bezweifeln auch, dass die Anbindung des von Dänemark unter der Ostsee verlaufende Fehmarnbelt-Tunnel planmäßig 2029 fertiggestellt sein wird. Nagl bleibt in diesen Fragen gelassen. "Wir halten an den kommunizierten Zielen bei beiden Projekten fest", versichert der Vorstand, fügt aber eine kleine Einschränkung an: "Natürlich werden diese im fortlaufenden Prozess immer wieder geprüft".
Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Sie wird durch die reibungslose Fahrt des ICE 699 nach Berlin wieder genährt, der pünktlich am Hauptbahnhof an der Spree einfährt. So schön könnte Bahnfahren werden, wenn die Zusagen auf Besserung auch einmal eingehalten werden.

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