Budgetkürzungen beim Polio-Programm : "Der Kampf gegen Polio hört nicht mal eben auf"
Der deutsche Beitrag zur Initiative gegen Polio schrumpft erheblich. Der Mediziner Oliver Razum warnt vor einem Nachlassen bei der Bekämpfung der Kinderlähmung.
Herr Razum, Polio galt lange als eine der gefürchtetsten Seuchen des 20. Jahrhunderts. Wie äußert sich die Krankheit?
Oliver Razum: 90 bis 95 Prozent der Infizierten zeigen keine Symptome, was es schwierig macht, Ausbrüche rechtzeitig einzudämmen. Die übrigen fünf bis zehn Prozent fühlen sich meistens wie bei einer Grippe. Aber bei einem kleinen Teil treten schwerwiegende, oft bleibende Lähmungserscheinungen auf. Im Extremfall betreffen sie die Atemmuskulatur, was zum Tod führen kann. In Deutschland gab es bei den Polio-Epidemien 1953/1954 fast 10.000 Erkrankte und 800 Todesfälle. Weil am häufigsten Kinder und Jugendliche betroffen waren, wird die Krankheit auch Kinderlähmung genannt.
In Deutschland und Europa gilt Polio als ausgerottet, aber besonders in Afrika und Asien gibt es immer wieder Ausbrüche. Wie bewerten Sie es, dass Deutschland seinen Beitrag zur globalen Initiative im Kampf gegen Polio (GPEI) 2026 erneut erheblich, nämlich um 23 Prozent, senken will?
Oliver Razum: Diese Kürzungen wiegen sehr schwer und werden dazu führen, dass weniger Kinder geimpft werden und daher an Polio erkranken können. Zumal ja auch andere Staaten die Mittel streichen. Die USA unter Präsident Donald Trump haben sich fast völlig aus der Entwicklungszusammenarbeit zurückgezogen. Eine fatale Entwicklung.
Dabei ist die GPEI sehr erfolgreich, die Zahl der Krankheitsfälle ist in den vergangenen Jahrzehnten um 99,99 Prozent gesunken. Warum ist das Programm weiterhin wichtig ?
Oliver Razum: Die beiden Impfstoffe gegen Polio sind ein riesiger Erfolg und haben Hunderttausende Menschenleben gerettet und Millionen Lähmungen verhindert. Aber der Kampf gegen Polio hört nicht mal eben auf. Solange das Virus zirkuliert, müssen Kinder geimpft werden. Es bleibt eine Herausforderung, Kinder in unzugänglichen Gebieten und in Konfliktregionen zu erreichen. Auch in Ländern mit mangelhaften Gesundheitssystemen sind Impfprogramme oft schwer durchzuführen.
Anders als heute in Europa wird in Entwicklungsländern meistens ein Lebendimpfstoff aus abgeschwächten Polio-Erregern eingesetzt. Zunehmend wird nun über Polio-Fälle berichtet, die durch mutierte Impfviren ausgelöst wurden. Was hat es damit auf sich?
Oliver Razum: Von diesem Problem wissen wir erst seit dem Jahr 2000, als es in der Dominikanischen Republik zu einem Ausbruch mit Impfviren kam. Diese mutierten Viren können sich in Ländern mit niedriger Impfabdeckung und schlechten Hygienebedingungen schnell verbreiten und eine Polio-Erkrankung auslösen, die vom Krankheitsbild her identisch ist. Das Auftreten dieser Impfviren ist ein Grund, warum es bisher nicht gelungen ist, Polio auszurotten.
„Solange es auf der Welt Polio gibt, werden auch Polioviren irgendwo auftauchen.“
In der Bundesrepublik wird schon lange nicht mehr mit dem Lebendimpfstoff geimpft. Warum wird er überhaupt noch verwendet?
Oliver Razum: Zum einen ist er günstiger. Aber er hat noch weitere große Vorteile. Er verhindert, dass Infizierte das Virus ausscheiden und so weiterverbreiten. Daher ist er in Ausbruchssituationen die bessere Wahl. Nicht-Geimpfte können sich bei mit dem Lebendimpfstoff Geimpften außerdem mit dem abgeschwächten Virus anstecken - sie werden quasi mitgeimpft und sind so geschützt.
Wie kann die Ausbreitung mutierter Impfviren verhindert werden?
Oliver Razum: Eine Überlegung ist, nur noch mit dem inaktivierten Impfstoff zu impfen, aber das ist derzeit weder finanzierbar noch geben das die Herstellungskapazitäten her. Hilfreich wäre es in jedem Fall, weltweit eine hohe Impfabdeckung zu erreichen. Denn Mutationen entstehen dort, wo zu wenig Menschen geimpft sind und das Virus gut zirkulieren kann. Tatsächlich schützen beide Impfstoffe sehr gut vor einer Ansteckung. Im Augenblick wird die Strategie verfolgt, nur noch gegen den letzten verbliebenen Wildtyp und die mutierten Viren zu impfen. Ein neuer Lebendimpfstoff konnte so verbessert werden, dass Mutationen immerhin seltener geworden sind.
In Deutschland wurden zuletzt Polio-Impfviren im Abwasser gefunden. Muss man sich deswegen Sorgen machen?
Oliver Razum: Das ist weder neu noch überraschend. Solange es auf der Welt Polio gibt, werden auch Polioviren irgendwo auftauchen. Bei Funden im Abwasser sind die Handlungsoptionen sehr überschaubar, denn es lässt sich nicht mehr herausfinden, von wem sie stammen. Deshalb bleibt ein guter Impfschutz gegen Polio auch in Deutschland wichtig.
Laut Robert-Koch-Institut sind aber nur noch drei Viertel aller Kleinkinder in Deutschland vollständig gegen Polio geimpft.
Oliver Razum: Das ist selbst für ein Land wie Deutschland mit sehr guten hygienischen Bedingungen bedenklich niedrig. Ist die Impfquote zu gering, gibt es keine Herdenimmunität mehr, das Virus kann sich dann gut ausbreiten und viele Ungeimpfte infizieren.
Halten Sie eine Ausrottung von Polio absehbar überhaupt für möglich?
Oliver Razum: Nein. In jedem Fall wird es für lange Zeit weiter notwendig sein, zu impfen. Ein Nachlassen der Bemühungen ist keine gute Idee.
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