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Unternehmen wünschen sich weniger Bürokratie, vor allem bei der sogenannten Identifikations- und Dokumentationspflicht.

Verwaltungsprozesse in der EU : Brüsseler Bürokratie

Der Königsweg beim Bürokratieabbau in der EU heißt Digitalisierung - dadurch könnten Genehmigungsverfahren einfacher und schneller werden.

23.05.2024
True 2024-06-04T11:20:57.7200Z
8 Min

Glaubt man den zahlreichen Kritikern des angeblich maßlosen Regulierungseifers der Europäischen Union, dann handelt es sich beim Brüsseler Europaviertel, dem Amtssitz von Parlament, Kommission und Rat der 27 Mitgliedsstaaten, um das Habitat eines wahren Bürokratiemonsters. Einer gefräßigen Paragrafenkrake, die von Belgiens Hauptstadt aus das Regiment über die nationalen Verwaltungen und Unternehmen übernommen hat. Die bis in kleinste Details hinein bestimmt, wie Wirtschaft und Gesellschaft in der EU zu funktionieren haben. Allenthalben klagen auch in Deutschland viele Betriebe, Selbstständige und Verbände über den "Bürokratie-Wahnsinn" auf dem europäischen Binnenmarkt - zu Recht?

Das "One in, One out"-Prinzip muss umgesetzt werden

Zunächst zeigt ein Vergleich, dass der vermeintlich monströse Beamtenapparat in Brüssel keineswegs die Dimensionen sprengt, die in deutschen Amtsstuben üblich sind: Die EU-Kommission beschäftigt etwa 32.000 Bedienstete, die bayerische Landeshauptstadt München allein sogar 40.000. Dennoch ist der bürokratische Output, den das Europäische Parlament und der Europäische Rat im vergangenen Jahr produziert haben, beachtlich: Allein 2023 wurden von diesen beiden Institutionen 330 Basisrechtsakte und 165 Änderungsrechtsakte erlassen, nicht zu vergessen jene mehr als 1.000 Durchführungs- und sonstigen Rechtsakte der EU-Kommission, die von den Mitgliedsländern umgesetzt werden müssen, obwohl die Kommission - anders als Parlament und Rat - über kein eigenes Initiativrecht verfügt. Das Prinzip "One in, One out", das 2022 eingeführt worden war, um den Bürokratieaufwand in Europa einzuhegen, greift in der Praxis (noch) nicht. Längst wird nicht für jede neue Vorschrift eine bestehende Regelung abgeschafft, wie es die "Agenda zur Besseren Rechtsetzung" eigentlich vorsieht.

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Kein Wunder, dass fast 43 Prozent der Bundesbürger laut einer Studie des Bonner Instituts für Mittelstandsforschung "Wut, Zorn und Aggressivität" verspüren, wenn sie an den von bürokratischen Auflagen verursachten Zeit- und Kostenaufwand denken - unabhängig davon, wer die Vorschriften erlassen hat. Tatsächlich ist ja auch der Bund nicht gerade untätig, was Genehmigungen oder Kontrollen anlangt: Mit 1.800 Bundesgesetzen und mehr als 50.000 Einzelnormen weist Deutschland im internationalen Vergleich eine der höchsten Regulierungsdichten auf, die von Ländern und Kommunen initiierten Vorschriften kommen noch dazu. Und aus Brüssel drohen neue Belastungen: Die Ausweitung der europäischen Berichtspflichten zur Nachhaltigkeit führen dazu, dass ab 2025 etwa 13.000 deutsche Unternehmen schrittweise berichtspflichtig werden. Die Betroffenen müssen sich danach auf mehr als 1.000 Punkte einstellen, die sie zu erheben und zu dokumentieren haben. "Dieser Bürokratismus", fürchtet Ulrich Stoll, Familienunternehmer aus Baden-Württemberg, "hemmt das Wachstum". Die Mehrkosten für eine GmbH mit weltweit 20.000 Lieferanten schätzt Stoll auf zwei Millionen Euro.

Landwirte protestieren gegen Überregulierung

In jüngster Zeit tönten die Proteste gegen zu viel Bürokratie besonders schrill aus der Landwirtschaft. Parallel zu seinen öffentlichen Demonstrationen überall in der Bundesrepublik lancierte der Deutsche Bauernverband einen 17 Seiten umfassenden Forderungskatalog zur "Entlastung der Landwirtschaft und zum Bürokratieabbau". Die Kritik der Agrarier richtet sich etwa gegen Pläne der EU-Kommission "zur massiven Ausweitung der Erhebung von Kriterien und Daten bei den landwirtschaftlichen Betrieben", gegen das geltende EU-Recht zu "Stilllegung und Brachen" sowie zu "Doppelregelungen" im Fach- und Umweltrecht. Holger Hennies, Landwirt aus Niedersachsen, hält zum Beispiel die europäischen Vorgaben zum Tiertransport für "nicht praktikabel". So sollen "die Transportzeiten von Tieren zur Schlachtung auf neun Stunden begrenzt werden", inklusive Be- und Entladezeit. Hennies: "Das ist unrealistisch, denn es gibt in Deutschland schon heute Regionen, in denen kein Schlachtbetrieb in acht beziehungsweise neun Stunden erreicht werden kann."


Cem Oezdemir im Portrait
Foto: DBT/Thomas Trutschel
„Wir wollen die Landwirtschaft vom Zuviel an Bürokratie befreien und schlanke, einfache und effiziente Regelungen.“
Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne)

So vielfältig, wie die Strukturen der bundesdeutschen Landwirtschaft sind, so differenziert fallen auch die Urteile über Brüsseler Direktiven aus. Jürgen Jakobs, der im brandenburgischen Beelitz einen großen Spargelhof betreibt, lobt grundsätzlich die "erheblichen Vorteile", die der gemeinsame Binnenmarkt in Europa den Bauern bringt. Dennoch nennt er "die überbordende Bürokratie" ein erhebliches Problem. Im betrieblichen Alltag ertrinke er zuweilen "in Anforderungen, die teils nicht nachvollziehbar sind", meint Jakobs. Beispiele seien die unterschiedlichen Pflanzenschutzauflagen oder die oft undurchsichtigen EU-Subventionen, die er am liebsten abschaffen würde. Manchmal allerdings, so gibt der Obst- und Gemüsebauer zu bedenken, wünsche er sich sogar mehr gemeinsamen Markt, also auch mehr europäische Harmonisierung - etwa beim Mindestlohn, der Sozialversicherung oder den Bewirtschaftungsvorgaben.

Tatsächlich haben die Landwirte den zuständigen Bundesminister Cem Özdemir (Grüne) auf ihrer Seite, wenn es um den "Abbau unnötiger Bürokratie" geht: "Wir wollen die Landwirtschaft vom Zuviel an Bürokratie befreien und schlanke, einfache und effiziente Regelungen", erklärte Özdemir jüngst. Doch was heißt das in der Praxis? Parteifreunde des Schwaben warnen davor, dass "Bürokratieabbau mit Standardabbau verwechselt" werde. Das sei ökologisch "der falsche Weg". Der Duisburger Grünen-Bundestagsabgeordnete Felix Banaszak, der früher als Referent für Europa-Parlamentarier seiner Partei arbeitete, verlangt deshalb, dass "Klimaschutz für die Unternehmen lukrativ und einfach gemacht werden" müsse. Nur dann könne "Europa als klimaneutraler Wirtschaftsstandort im globalen Wettbewerb mithalten." Das neu gewählte EU-Parlament müsse sich sofort an diese riesige Herausforderung im Rahmen des "Green Deal" machen.

Verwaltungsprozesse sollen beschleunigt werden

Für viele Experten heißt der Königsweg beim Bürokratieabbau Digitalisierung. Dadurch könnten Genehmigungsverfahren vereinfacht und Verwaltungsprozesse beschleunigt werden. So setzen auch die Steuerberater zunehmend auf "digitale Möglichkeiten" ihrer Mandanten, den europäischen Binnenmarkt zu nutzen. Allerdings fehle für möglichst unbürokratische Abläufe in der EU noch die erforderliche Planungs- und Rechtssicherheit nicht zuletzt für angehende Steuerberater, kritisiert Torsten Lüth, Präsident des Deutschen Steuerberaterverbandes. Ziemlich konkret sind auch die Forderungen, die eine verwandte Berufsgruppe an die künftige EU-Kommission stellt. Der Düsseldorfer Rechtsanwalt Dirk Uwer wünscht sich, dass sich Brüssel "einmal eine ganze Legislaturperiode nur der Abschaffung von bürokratielastigen Rechtsvorschriften widmet". Davon gebe es nämlich einfach zu viele, besonders im Umweltrecht.

Was das Subsidiaritätsprinzip bedeutet

☝️ Subsidiarität bedeutet, dass Eigenverantwortung vor staatliches Handeln gestellt wird und die Eigenleistung und die Selbstbestimmung des Individuums und der Gemeinschaften - beispielsweise der Kommunen - gefördert werden.

👥 Das Subsidiaritätsprinzip besagt daraus folgend, dass höhere staatliche Institutionen nur dann (aber auch immer dann) regelnd eingreifen sollten, wenn die Möglichkeiten des Einzelnen, einer kleineren Gruppe oder einer niedrigeren Hierarchie-Ebene allein nicht ausreichen, eine bestimmte Aufgabe zu lösen.

💡 Anders gesagt bedeutet das, dass die Ebene der Regulierungskompetenz immer so niedrig wie möglich und so hoch wie nötig angesiedelt sein sollte.



In Uwers Wirtschaftskanzlei kümmert sich zum Beispiel "ein mehrköpfiges, hochqualifiziertes Team mit hohem Aufwand um die Erfüllung der geldwäscherechtlichen Sorgfalts-, Identifizierungs- und Dokumentationspflichten". In zwei Jahrzehnten sei seine Sozietät "trotz dieser Anstrengungen noch auf keinen Geldwäscheverdachtsfall gestoßen". Für Uwer ein Beleg "für weitgehend wirkungslose, aber teure, aufwändige Bürokratie". Ein ähnlicher Fall liege in der sogenannten DAC6-Richtlinie der EU vor, die den verpflichtenden Informationsaustausch im Bereich grenzüberschreitender Besteuerung vorsieht. Auch hier stünden, so Uwer, "Aufwand und Nutzen in keinem angemessenen Verhältnis". Als "total überflüssig und hemmend" schließlich sieht der Anwalt die Vorschrift an, selbst für bloß einstündige Besprechungen im EU-Ausland eine "A1-Bescheinigung" der Deutschen Rentenversicherung mit sich führen zu müssen: "Das zeigt, wie weit sich die EU praktisch vom Gedanken eines Europas ohne Grenzen entfernt hat."

Der Bedarf an Personal ist enorm

Nicht bloß Selbstständige und Privatfirmen ächzen häufig unter den bürokratischen Auflagen der EU. Auch die im Verband kommunaler Unternehmen (VKU) organisierten 1.500 Stadtwerke, Ver- und Entsorgungsbetriebe von Städten und Gemeinden in Deutschland mit rund 283.000 Beschäftigten sind davon unmittelbar betroffen. Zwar begrüßt der VKU, "dass wir in Europa einen gemeinsamen Weg zur Klimaneutralität gehen", doch bei der Umsetzung dieses Ziels stoßen die kommunalen Energie-, Wasser- und Telekommunikationsversorger ebenso wie bei der Abwasser- und Abfallbeseitigung auf Belastungen, die finanzielle und personelle Ressourcen verschlingen. Markante Beispiele sind die Pflichten der Nachhaltigkeitsberichterstattung und der Ausbau der Ladeinfrastruktur für Elektroautos. Ein VKU-Sprecher: "Für jeden einzelnen Ladepunkt müssen wir einen eigenen Förderantrag stellen und jedes halbe Jahr berichten. Schneller wären wir, wenn wir mit einem Förderantrag mehrere Ladepunkte beantragen und nur einmal im Jahr berichten müssten."

Der Vergleich zwischen den Bürokratielasten aus Brüssel und aus Berlin fällt beim VKU differenziert aus: "Brüssel hat bei seiner Gesetzgebung oft Konzerne im Sinn, Berlin weitet dann leider häufig die EU-Vorgaben bei der Umsetzung in deutsches Recht in Eigenregie auf den Mittelstand aus." Diese "deutsche Marotte" bereite dem kommunalen Mittelstand "echt Kopfschmerzen". Tatsächlich ist in Brüssel zu hören, dass rund die Hälfte aller EU-Richtlinien und -Verordnungen auf deutsche Initiative oder mit deutscher Unterstützung zustande kommen.

Der Bundestag bleibt außen vor

Der europapolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Gunther Krichbaum, spielt den Ball zurück ins Feld der EU. Sein Argument: Während früher auf neun Richtlinien aus Brüssel eine Verordnung kam, habe sich dieses Verhältnis heute umgedreht. Die Folge: EU-Verordnungen gelten in den Mitgliedsländern unmittelbar, Richtlinien müssen von den nationalen Parlamenten erst umgesetzt werden, mit einem gewissen Gestaltungsspielraum für die jeweiligen Volksvertretungen. Krichbaum: "Bei Verordnungen ist der Bundestag komplett außen vor." Er fordert daher, die Beziehungen zwischen Brüssel und den 27 EU-Mitgliedstaaten "vom Kopf auf die Füße zu stellen: Die EU gibt den Rahmen vor, die nationalen Parlamente füllen ihn aus".

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Allerdings räumt Krichbaum ein, die wachsende "Eingriffstiefe" durch die europäische Bürokratie habe auch etwas mit der zunehmenden Integration zu tun, "die nicht ohne gemeinschaftliche Rechtsetzung zu haben" sei. Dennoch plädiert der CDU-Europaexperte dafür, dass "die Eingriffstiefe der europäischen Regelungen begrenzt wird, damit den Mitgliedsstaaten mehr Spielräume bleiben".

Brüssel ist weit vom Alltag des Mittelstands entfernt

Der FDP-Haushaltspolitiker Otto Fricke hat Verständnis für die Notwendigkeit, Normen zu vereinheitlichen. Das könne durchaus wie eine zusätzliche Belastung wirken, sei aber oft nur der Ersatz für bisheriges Regelwerk auf nationaler Ebene. Allerdings sieht er im Wunsch der Politik, "Gerechtigkeit und Gleichheit durch staatliche Eingriffe herbeizuführen", etwa durch die EU-Kommission, eine unnötige Belastung und einen Kostentreiber für die Wirtschaft, zumal die Brüsseler Beamten "vom Alltag etwa eines deutschen Mittelständlers viel weiter entfernt sind als ihre Kollegen in Berlin oder in den Bundesländern".

Fricke bemängelt, dass in Europa vielfach Transparenz und Gewaltenteilung fehlten: "Das funktioniert nicht richtig." Dennoch lässt der Jurist nichts auf die Segnungen der EU gerade für die europäischen Grenzregionen kommen. Fricke selbst ist häufig in den Niederlanden unterwegs und kann sich dort perfekt in der Landessprache verständigen.