
Israel-Gaza-Krieg : "Halten die uns für dumm?"
Europas Kritik am Vorgehen der Netanjahu-Regierung in Gaza wird lauter. Doch auch in Israel wachsen die Zweifel an der Sinnhaftigkeit der brutalen Militäroffensive.
Es glich einem politischen Lynch. Als Yair Golan, der Vorsitzende der israelischen Oppositionspartei Die Demokraten, in einem Radiointerview erklärte, ein Land, das bei gesundem Verstand ist, führe keinen Krieg gegen Zivilisten und töte keine Babys als Hobby, brach die Hölle über ihn herein. Ein Staatsverräter sei er, seine Worte erinnerten an antisemitische Mythen des Juden als Kindermörder.
Yair Golan hat schon oft übers Ziel hinausgeschossen. Aber für viele ist der ehemalige Vizegeneralstabschef ein Volksheld. Am 7. Oktober 2023, als die Hamas Israel überfiel, war er einer, der auf eigene Faust in die Kampfzone fuhr und Kibbuzbewohner vor Terroristen rettete.

Palästinensische Kinder warten an einer Verteilstation für Hilfsgüter in Gaza-Stadt auf Essen. Zuvor hatte Israel Hilfslieferungen fast drei Monate lang blockiert.
Das schützt ihn nicht vor dem Zorn der "Bibisten", wie die Anhänger von Regierungschef Benjamin Netanjahu in Israel genannt werden. Einige Kabinettsmitglieder gingen sogar soweit, Golan für den Mord an zwei Angestellten der israelischen Botschaft in Washington mitverantwortlich zu machen. Seine Aussagen hätten den Täter zum Mord aufgehetzt.
Der Aufschrei um Golans Worte macht klar, wie offen die Wunde Gaza selbst in der israelischen Gesellschaft klafft. Auch wenn viele Medien das Leid der Zivilbevölkerung Gazas nach wie vor ausblenden: Nach anderthalb Jahren Krieg und dem Tod von 50.000 Zivilisten, darunter ein Drittel Kinder und Jugendliche, kann Israel die Augen vor der humanitären Katastrophe nicht mehr verschließen.
Worte, die vor ein paar Monaten noch undenkbar waren
Der ehemalige Armeechef Moshe Ya'alon beschuldigte Israel der ethnischen Säuberung. Ehud Olmert, der letzte Ministerpräsident, der versuchte, zu einem Friedensabkommen mit den Palästinensern zu kommen, schrieb in der linksliberalen Tageszeitung Haaretz, Israel begehe Kriegsverbrechen. Harte Worte, die noch vor ein paar Monaten undenkbar gewesen wären.
Auch in der Zivilgesellschaft rührt sich Protest, nicht zuletzt aus der Armee, die sich seit jeher als Volksarmee versteht. 120.000 Reservisten haben die Regierung zu einem Waffenstillstand aufgerufen. Den Ball ins Rollen gebracht hat Uri Arad, ehemaliger Kampfpilot mit einem offenen Brief der Luftwaffenreservisten. "Die Regierung will uns das Märchen erzählen, dass nur militärischer Druck unsere Geiseln zurückbringen würde", sagt er. "Aber ein hoher Offizier sagte jetzt, dass der Krieg die, die noch leben, gefährdet. Halten die uns für dumm?" Der Brief der Piloten war nur der erste. Es folgten Aufrufe der Fallschirmjäger, der Infanterie, der Ärzte und der Sanitäter.
Präsident Netanjahu hält trotz Protesten an seinem Kurs fest
Doch selbst wenn der Bruch zwischen Teilen der Armee und einer teils rechtsextremen Regierung immer tiefer wird: Netanjahu bleibt auf Kurs. 75 Prozent des Gazastreifens will er in den nächsten Monaten besetzen. Die Bevölkerung soll in drei Gebieten "konzentriert" werden. Nicht nur käme das einer Zwangsumsiedlung gleich. Auch kann bisher kein Regierungsmitglied plausibel erklären, wie die Hamas, die nach wie vor mehr als 20 lebende Geiseln in den Tunneln foltert und aushungert, so in die Knie gezwungen werden soll.
„Wenn uns ein Waffenembargo auferlegt wird, wird Israel vom Iran und der Hamas zerstört werden, und es im Lande Israel einen zweiten Holocaust geben.“
Auf Druck von US-Präsident Donald Trump musste sich die Netanjahu-Regierung von ihrem Plan verabschieden, die Bevölkerung Gazas hungern zu lassen, bis die Hamas alle israelischen Geiseln freilässt. Bilder von bis auf die Knochen abgemagerten Kindern waren selbst dem hartgesottenen US-Präsidenten zu viel. Nach zwei Monaten sah sich Netanjahu gezwungen, die humanitären Hilfslieferungen wieder aufnehmen. Die lässt Israel und die USA durch eine zwielichtige, in Delaware aus dem Boden gestampfte humanitäre Stiftung durchführen, der Gaza Humanitarian Foundation (GHF), der es nicht einmal gelingt, die Hilfslieferungen vor plündernden Banden zu retten.
Doch jedes Gramm Mehl, das ankommt, zählt. "Thank you, President Trump", bekunden Bewohner Gazas in Videos auf sozialen Medien. Dass derselbe Präsident Trump deren Vertreibung nach Ägypten, Jordanien oder Libyen plant, um das zerstörte Gaza zu einer Riviera seines Immobilien-Imperiums zu machen, ist für einen Moment vergessen.
Wenn es um ein Waffenembargo geht, dann hört Israel zu
Auch in Europa mehrt sich die Kritik. Großbritannien, Irland und Spanien werfen Israel Massenvertreibung, ethnische Säuberung und wahllose Erschießungen von Zivilisten vor, fordern Sanktionen, ein Waffenembargo und die Anerkennung eines palästinensischen Staats. Bundeskanzler Friedrich Merz sagt, er verstehe das Kriegsziel und das Vorgehen Israels im Gaza nicht mehr. Der Kampf gegen die Hamas könne nicht mehr begründen, dass die Zivilbevölkerung derartig in Mitleidenschaft gezogen würde.
In Jerusalem galt Merz bisher als Unterstützer ohne Wenn und Aber. Nach seinem Amtsantritt hatte er Premier Netanjahu nach Berlin eingeladen, obwohl gegen diesen ein Haftbefehl beim internationalen Gerichtshof vorliegt. Der Wind hat sich gedreht.
Israel spricht von einem "politischen Tsunami". Zwar lassen Drohungen und moralische Ermahnungen an die Einhaltung des Völkerrechts die Netanjahu-Regierung kalt. Doch wenn es um ein Waffenembargo geht, hört Jerusalem zu. Schon die US-Regierung unter Joe Biden hatte im Mai vergangenen Jahres den Export schwerer Bomben nach Israel gestoppt. Im dicht besiedelten Gaza hätten diese verheerenden Schäden unter Zivilisten angerichtet. Die Regierung in Jerusalem ging auf die Barrikaden. Biden blieb hart.
Deutsche Abgeordnete fordern Stopp der Waffenlieferungen an Israel
Jetzt werden auch deutsche Stimmen, wie die mehrerer SPD-Abgeordneter, lauter, die einen Stopp der Waffenlieferungen fordern. Deutschland könnte sich durch die Lieferungen an Israels Kriegsverbrechen beteiligen, sagte etwa die SPD-Abgeordnete Isabel Cademartori gegenüber dem "Stern". Es laufe Gefahr, selbst juristisch von internationalen Gerichten belangt zu werden.
Die Entscheidung über Waffenexporte liegt beim Bundessicherheitsrat, einem Ausschuss mehrerer Minister unter der Leitung des Kanzlers. Doch das letzte Wort liegt bei den Gerichten.
Die Augsburger Renk AG beispielsweise liefert Getriebe für den israelischen Merkava Panzer. Der ist auch in Gaza im Einsatz. Vor einem halben Jahr klagten Menschenrechtsorganisationen gegen die Ausfuhr der Bauteile. Vergeblich. Das Verwaltungsgericht in Frankfurt am Main erklärte den Export für legal. Selbst wenn in Gaza Einsätze stattfänden, die vielleicht gegen das Völkerrecht verstoßen, seien die Panzer auch "anderweitig zur Landesverteidigung" im Einsatz. Doch im aktuellen politischen Klima könnten Urteile in der Zukunft anders ausfallen.
"Wenn uns ein Waffenembargo auferlegt wird", droht Israels Außenminister Gideon Saar, "wird Israel vom Iran und der Hamas zerstört werden, und es im Lande Israel einen zweiten Holocaust geben."
Im liberalen Tel Aviv begreift die Zivilgesellschaft sehr wohl, dass Israel auf dem besten Weg ist, zu einem Paria-Staat zu werden. Doch die Hardliner in Jerusalem halten an ihrer Devise fest, dass nur gnadenloser militärischer Druck die Hamas bezwingen könne. Tote palästinensische Zivilisten? Who cares? "Letzte Nacht töteten wir fast hundert Palästinenser in Gaza und es kümmert niemanden", prahlte ein rechtsextremer Knesset-Abgeordneter. Er könnte sich täuschen.
Der Autor ist Journalist und Filmemacher und lebt in Israel.
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