Piwik Webtracking Image

Rechtsstaat während Corona : "Wir schulden der jungen Generation etwas"

In der Corona-Enquete diskutieren Experten über die gesetzlichen Grundlagen der Pandemie-Bekämpfung. In Karlsruhe wird tags darauf die Triage-Regelung kassiert.

05.11.2025
True 2025-11-06T16:06:59.3600Z
4 Min

Ist der Rechtsstaat gut gewappnet für eine nächste Pandemie? Sachverständige forderten am vergangenen Montag im Bundestag eine breitere Grundlage für politisches Handeln im Krisenmanagement – und eine breitere, demokratischere Legitimierung. „Wir müssen schauen, dass wir für die nächste Pandemie besser gerüstet sind“, sagte Rechtswissenschaftlerin Anika Klafki in einer öffentlichen Anhörung der Enquete-Kommission Corona

Dies sei auch ein Gebot der Effektivität in der Krisenbekämpfung. Corona-Schutzverordnungen seien beispielsweise teils 40 Seiten lang gewesen. „Das ist für einen juristischen Laien nicht zu durchdringen“, sagte die Professorin für Öffentliches Recht und Mitglied des Thüringer Verfassungsgerichts. Das Infektionsschutzgesetz (IfSG) sei nicht auf eine Pandemie ausgerichtet. Damit brachte die Rechtswissenschaftlerin auch die Möglichkeit eines neuen Gesetzes in die Debatte ein. 

Foto: picture alliance / Fotostand

Spielplatzsperrung im Frühjahr 2020: Insbesondere Kinder und Jugendliche wurden durch die Corona-Maßnahmen in den Pandemiejahren hart getroffen.

Das Gremium, dem jeweils 14 Abgeordnete und Sachverständige angehören, hat die Aufgabe, die Corona-Zeit aufzuarbeiten und Lehren für die Zukunft zu ziehen. Die jüngste Anhörung befasste sich mit dem „Rechtsstaat unter Pandemiebedingungen“. 

Während der Pandemie hatte es in mehreren Phasen erhebliche rechtliche Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens gegeben, auch zu weitgehende, wie die ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Alena Buyx, festhielt: „Im Rückblick wurde überzogen“, sagte die Professorin für Medizinethik mit Blick auf die Schließungen von Kitas, Schulen und Unis. „Wir schulden der jungen Generation etwas.“ Buyx bilanzierte, es sei während der Corona-Pandemie wenig Gebrauch von lokalen Lösungsempfehlungen gemacht worden. Sie empfahl zudem einen besonderen Schutz von vulnerablen Gruppen und mehr Ressourcen für die Institutionen. 

Experten-Dissens über verfassungsrechtliche Grundlage der Corona-Maßnahmen

Mehr zum Thema

Mehr zum Thema "Wir haben unseren Kindern sehr viel abverlangt"
Psychologin Sabine Walper zu den Pandemie-Folgen: "Wir haben unseren Kindern sehr viel abverlangt"

Karl Albrecht Schachtschneider setzte ein Fragezeichen hinter die Verfassungsmäßigkeit zahlreicher damaliger politischer Entscheidungen. In seiner verfassungsrechtlichen Argumentation setzte sich der ehemalige Professor für Öffentliches Recht an der Uni Erlangen-Nürnberg kritisch mit dem staatlichen Umgang mit dem Begriff der Gefahr auseinander. „Im Rechtsstaat können nicht alle Menschen zu Schutzmaßnahmen verpflichtet werden, obwohl sie niemand infizieren können, weil sie weder infiziert, noch gar erkrankt sind.“ Es bestehe lediglich die Befürchtung dessen. „Und das ist keine Gefahr.“ Schachtschneider plädierte für die Einführung einer Notstandsregelung. „Deutschland hat keine Notstandsverfassung.“ Ohne diese hätten die damaligen Maßnahmen “alle einschlägigen Grundrechte verletzt“. 

Karsten Schneider nahm eine weniger kritische Haltung zur Rechtsgrundlage ein. „Die Corona-Pandemie hat den Rechtsstaat nicht verändert“, sagte der Professor für Öffentliches Recht an der Uni Mainz. „Er musste handeln, während Wissen strittig, Daten unvollständig und Prognosen unsicher waren.“ Gerade der Umgang mit Unsicherheit müsse möglichst präzise sein: „Ein Grundrechtsopfer“ bei der Abwägung der Maßnahmen in der Pandemiebekämpfung „ist sicher antizipierbar und individuell erfahrbar“. Der Erfolg dieser Maßnahmen, also die „tatsächliche Abwendung der Gefahr bleibt unsicher“.

Sachverständiger wirbt für “Pluralität der Wissensgewinnung”

Ähnlich argumentierte Stephan Rixen. „Es war auch nicht alles schlecht, es braucht einen differenzierenden Blick.“ Anfangs sei das Infektionsschutzgesetz viel zu weit gefasst gewesen. Aber der Bundestag habe nachjustiert, „das war ein guter Weg“. Der Professor für Öffentliches Recht an der Universität Köln warb dafür, sich als Erfahrung aus der Pandemie für die „Pluralität der Wissensgewinnung“ einzusetzen. Rückblickend betrachtet wäre es klüger gewesen, erziehungswissenschaftliche , sozial- und humanwissenschaftliche Aspekte stärker zu berücksichtigen. 


„Wir brauchen konzeptbasiertes Handeln.“
Rechtswissenschaftlerin Anika Klafki

„Das Recht hat in der Pandemie eine vergleichsweise geringe Rolle gespielt“, sagte Oliver Lepsius. Der Professor für Öffentliches Recht an der Universität Münster sagte, der Bundestag sei mit Blick auf Grundrechtbelastungen „das sensibelste Staatsorgan gewesen“. Grundrechtliche Aspekte wurden in Parlamentsberatungen überhaupt erst artikuliert. Ein Problem bei reinen Exekutivgremien wie den damaligen Bund-Länder-Runden sei, dass sie nicht repräsentativ zusammengesetzt seien. „Eine Expertenherrschaft – Follow the science“ habe Defizite bei Abwägungsentscheidungen. 

Mehr zum Gremium lesen

Mehr zum Thema Das macht eine Enquete-Kommission im Bundestag
Zuständig für die großen Zukunftsfragen : Das macht eine Enquete-Kommission im Bundestag

Expertin Klafki machte den Vorschlag, Maßnahmen der Pandemiebekämpfung auszudifferenzieren. „Was ist eine Reisebeschränkung, was ist ein Besuchsverbot?“ Krisenstäbe würde sie eher auf Länderebene sehen. Experte Rixen sagte: Eine Generalklausel, die alle Optionen offenhalte, sei keine Lösung, es brauche ein „differenziertes Normprogramm“, um unterschiedlichen Herausforderungen in einer Pandemie gerecht zu werden. 

Der Sachverständige Lepsius warf ein, man habe einen Mangel an Empirie gehabt. Aber: Man könne nicht „Unwissen über drei Jahre nicht immer wieder als Rechtfertigungsgrund“ aktivieren. Die „Regulierung von Sozialverhalten junger Menschen“ habe in einem Missverhältnis zum erhofften Erfolg des Schutzes von Über-80-Jährigen gestanden. Klafki schloss: „Wir brauchen konzeptbasiertes Handeln.“ 

Bundesverfassungsgericht: Bund ist nicht für Triage-Regelungen zuständig

Neue Stellschrauben in einem Konzept muss sich die Politik allerdings auch überlegen. Das Bundesverfassungsgericht hat am Dienstag Regelungen im Infektionsschutzgesetz zur sogenannten Triage bei medizinischen Behandlungen für mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig erklärt. Triage beschreibt Vorgaben für ärztliches Personal, wie über die Behandlungsreihenfolge von Patienten zu entscheiden ist, falls die Kapazitäten nicht für alle ausreichen. 

Die Karlsruher Richter urteilten über zwei Verfassungsbeschwerden von Notfall- und Intensivmedizinern. Die Mediziner sahen mit den im November 2022 im Bundestag beschlossenen gesetzlichen Regelungen ihre Berufsfreiheit verletzt. Karlsruhe antwortete: Ärzten obliege im Rahmen therapeutischer Verantwortung auch die Entscheidung über das „Ob“ und „Wie“ einer Heilbehandlung. Ein gesetzlicher Eingriff des Bundes sei verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Der Bund habe hier keine Gesetzgebungskompetenz. Dies bedeutet aber nicht, dass das Bundesverfassungsgericht keine Triage-Vorgaben der Politik will; es sieht indes die Länder darin in der Pflicht. Sie müssten eigene Landesregelungen zur Triage auf den Weg bringen. 

Mehr zur Corona-Enquete

Ein Linienbus mit Hinweisen zum Tragen einer medizinischen Maske
Aufarbeitung der Corona-Pandemie: Die Länder haben Vorsprung
Von Stuttgart bis Erfurt: In ihrer ersten Arbeitssitzung hat die Corona-Enquete bei den Erfahrungen der Landtage mit der Pandemieaufarbeitung genau hingeschaut.
Bundestagspraesidentin Julia Kloeckner und die Abgeordnete Franziska Hoppermann.
Aufarbeitung der Pandemie: Corona-Enquete nimmt die Arbeit auf
Die schwarz-rote Koalition will die Pandemie und ihre Folgen aufarbeiten. Die dafür eingerichtete Kommission aus Abgeordneten und Sachverständigen legt nun los.