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Daniel Botmann über 80 Jahre Kriegsende : "Die Erinnerung an die Shoa ist kein Matheunterricht"

Der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland über Fehlentwicklungen in der Bildungsarbeit und den dauerhaften Kampf gegen Antisemitismus.

02.05.2025
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6 Min

Herr Botmann, 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nehmen nur noch vereinzelt Zeitzeugen an den Gedenkveranstaltungen teil. Die Ereignisse werden zunehmend historisiert, worauf viele Menschen auch mit Sorge blicken. Zu Recht?

Daniel Botmann: Das Sterben der Zeitzeugen wird die Gedenkkultur, wie wir sie kennen, verändern. Das Erinnern für alle Altersgruppen, aber auch für Menschen mit Migrationshintergrund, die keinen familiären Bezug zur Shoa haben, weiterhin authentisch zu gestalten, ist die große Aufgabe der heutigen Gesellschaft. Aber sie ist lösbar.

Es waren die Überlebenden der Konzentrationslager, die nach 1945 dafür gesorgt haben, dass aus Tatorten Gedenkorte wurden, dass anderswo Mahnmale entstanden sind. Die Opfer mussten für ihr Anliegen selber kämpfen.

Daniel Botmann: Dieses Phänomen erleben wir auch heute. Zum Beispiel drängen Länder wie Polen oder Ungarn sehr darauf, Opfer in den Arbeits- oder Vernichtungslagern nicht mehr als jüdische, sondern als polnische oder ungarische Opfer darzustellen. Auch da ist es wieder Aufgabe der jüdischen Seite zu betonen: Wir dürfen das nicht so einfach verwischen. Denn diese Menschen sind ermordet worden, weil sie Juden waren und nicht, weil sie Polen oder Ungarn waren.

Foto: Zentralrat der Juden
Daniel Botmann
wurde 1984 in Tel Aviv geboren und ist in Trier aufgewachsen. Der Rechtsanwalt war von 2005 bis 2011 stellvertretender Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Rheinland-Pfalz. Seit 2014 ist er Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Foto: Zentralrat der Juden

In der Bundesrepublik ist nach dem anfänglichen Verschweigen der Verbrechen in mühevollen Aushandlungsprozessen eine vielfältige Erinnerungskultur mit Gedenk- und Dokumentationsstätten entstanden, die sich über zu wenige Besucher nicht beklagen können. Das ist doch eine gute Nachricht, oder?

Daniel Botmann: Durch das tatsächliche Erleben solcher Orte des Schreckens verändert sich häufig auch der Blick, und die Sensibilität für dieses Thema steigt. Aber der alleinige Besuch einer Gedenkstätte reicht nicht aus, um ein Bewusstsein für die Geschichte zu entwickeln. Dafür ist eine pädagogische Vor- und Nachbereitung zwingend. Das heißt: Neben der Finanzierung der Gedenkstätten muss es Platz in Lehrplänen und in der Ausbildung des Lehrpersonals für dieses Thema geben. Aber zur Wahrheit gehört leider auch, dass es in den Gedenkstätten einen massiven Investitionsstau gibt. Sie sind häufig unterfinanziert. Um diese authentischen Erinnerungsorte auch für die Zukunft zu erhalten, braucht es deutlich mehr Unterstützung von der Politik.

Im Widerspruch zu dem Besucherandrang scheint zu stehen, dass in Umfragen der Anteil jener Befragten steigt, die einen Schlussstrich unter dieses Kapitel ziehen wollen. Diese Debatte ist längst keine mehr, die nur ganz rechts außen geführt wird.

Daniel Botmann: Ich gehe noch einen Schritt weiter. Wenn in Umfragen 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler der achten oder neunten Klasse angeben, mit dem Begriff Auschwitz nichts anfangen zu können, ist das ja noch bezeichnender. Offensichtlich gibt es auch in der schulischen Bildung eine Fehlentwicklung.

Gibt es dazu Gespräche mit den Landesbildungsministern, was eine bessere Vermittlung des Themas in der Schule betrifft?

Daniel Botmann: Wir sind eng mit der KMK (Kultusministerkonferenz) vernetzt. Unter anderem wurde bereits ein Leitfaden für die Darstellung von Juden in Schulbüchern erarbeitet, denn darin werden sie häufig stilisiert mit Schläfenlocken und langem Bart dargestellt. Das wird aber der Realität in Deutschland überhaupt nicht gerecht. Es gibt auch Empfehlungen für Lehrkräfte zum Umgang mit Antisemitismus. Aber die besten Konzepte helfen nicht, wenn sie am Ende nur von einem Teil der Lehrkräfte umgesetzt werden. Auch die Eltern dürfen sich im Übrigen nicht aus der Verantwortung nehmen. Es kann nicht alles an die Schule abgeschoben werden. Es liegt auch an ihnen, den Kindern einen Kompass mit auf den Weg zu geben. Die Erinnerung an die Shoa ist kein Matheunterricht. Es geht auch darum, Kinder und Jugendliche emotional zu erreichen und Empathie zu erzeugen. Das gilt für die Schule, aber auch für zu Hause.


„Leider gibt es in den Gedenkstätten einen massiven Investitionsstau, sie sind häufig unterfinanziert.“
Daniel Botmann

Die Eröffnung des Holocaust-Mahnmals jährt sich am 10. Mai zum 20. Mal. Wie finden Sie es, wenn an so einem Ort Kinder durch die Gegend toben und Verstecken spielen?

Daniel Botmann: Letztendlich fügt sich dieser Ort ein in das Stadtbild und so, wie das Mahnmal gestaltet ist, ist es unumgänglich, dass dort auch Kinder Verstecken spielen. Dennoch denke ich, entsteht bei den meisten Besuchern ein beklemmendes Gefühl, wenn sie sich zwischen den Stelen bewegen, und sie fangen an, sich mit der Besonderheit des Ortes auseinanderzusetzen.

Verändert hat sich seit einigen Jahren der Diskurs über die Opfer, immer mehr Opfergruppen des NS-Regimes geraten in den Fokus. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Daniel Botmann: Eins ist klar: Es darf und es sollte keine Opferkonkurrenz geben. Natürlich muss an all die Opfer des Nationalsozialismus erinnert werden, ob es Homosexuelle, politisch Verfolgte, Kommunisten oder Sinti und Roma waren. Es darf dabei aber nicht zu einer Marginalisierung der jüdischen Opfer kommen, denn sie waren nun einmal bei weitem die größte Opfergruppe.

Nach dem Hamas-Terror vom 7. Oktober 2023 und dem starken Anstieg antisemitischer Straftaten ploppte in der Debatte darüber die Forderung nach einem verpflichtenden Besuch einer KZ-Gedenkstätte für Schüler wieder auf. Würden Sie das befürworten?

Daniel Botmann: Ich würde es tatsächlich befürworten, wenn es eingebettet wäre in ein pädagogisches Konzept. Nur dann, glaube ich, kann es tatsächlich einen wirkungsvollen Effekt haben.

Der Zentralrat der Juden

📅 Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat sich seit seiner Gründung 1950 von einer Interessenvertretung auf Zeit zum zentralen Dachverband der jüdischen Gemeinden entwickelt. Seine Geschichte spiegelt auch die wechselvolle Geschichte der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland nach der Shoa wider.

👨‍👩‍👧‍👧 Der Zentralrat sollte zunächst eine Interessenvertretung für Jüdinnen und Juden während der Übergangszeit bis zur endgültigen Ausreise sein. 1950 lebten rund 15.000 Juden in Deutschland. Zu den Überlebenden stießen die aus dem Exil zurückgekehrten Remigranten - eine Entscheidung, die in der internationalen jüdischen Gemeinschaft äußerst umstritten war. In der DDR lebten 1949 knapp 500 Jüdinnen und Juden, die in fünf Gemeinden zusammengeschlossen waren.

📈 Die Gemeinden haben etwa 100.000 Mitglieder. Seit 1989 sind rund 200.000 Menschen jüdischer Abstammung aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland eingewandert. In den vergangenen Jahren gab es einen starken Zuzug von Israelis allein nach Berlin.



In einer aktuellen Befragung gaben rund 60 Prozent der jungen Menschen an, ihr Wissen über den Nationalsozialismus hauptsächlich aus den Sozialen Medien zu beziehen. Es sei dort ein schwer überschaubarer Tummelplatz entstanden, auf dem Geschichte diskutiert, emotional aufgeladen oder verfälscht wird, schrieb jüngst ein Historiker dazu. Macht Ihnen das Angst?

Daniel Botmann: Angst ist das falsche Wort. Ich denke, wir sollten hier aktiv etwas entgegensetzen. Es ist gut, wenn Gedenkstätten beispielsweise auf Plattformen wie TikTok und in anderen sozialen Medien präsenter werden. Ich denke, in digitale Bildungsformate sollte noch mehr investiert werden, als es derzeit der Fall ist. Das Internet und Soziale Medien werden nicht verschwinden. Dieser Raum muss künftig noch viel intensiver für Bildung und Aufklärung genutzt werden.

Im vergangenen Jahr hat das Gedenkstättenkonzept der Ampel-Regierung heftigen Widerspruch bei den Gedenkstättenleitern ausgelöst. Sie hatten befürchtet, dass eine breitere thematische Aufstellung zulasten der Darstellung der NS-Verbrechen führen könnten. Konnten Sie das nachvollziehen?

Daniel Botmann: Ich habe die Sorge geteilt. Die Shoa ist singulär in der deutschen Geschichte. Wir sind natürlich überzeugt von der Notwendigkeit, die einzelnen Epochen der deutschen Geschichte aufzuarbeiten, auch die Kolonialzeit und die Verbrechen, die hier stattgefunden haben. Es wird aber den historischen Ereignissen nicht gerecht, wenn sie so miteinander vermischt werden, wie es in dem Konzept bis zum Ende leider geplant war. Das dient im Übrigen weder der Aufarbeitung des einen noch des anderen Verbrechens.


„Antisemitismus ist ein sehr dynamisches Phänomen. Es findet immer wieder einen neuen Weg.“
Daniel Botmann

Seit Oktober 2023 überlegen Mitglieder jüdischer Gemeinden wieder, Deutschland zu verlassen, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen. Wie präsent ist das Thema in den Gemeinden aktuell?

Daniel Botmann: Die Gefahrenlage für jüdische Gemeinden und für Juden in Deutschland ist nach wie vor hoch. Auswanderungsgedanken gibt es bei Juden in Deutschland vereinzelt, sie sind aber kein Massenphänomen. In Frankreich oder Spanien allerdings sind die jüdischen Gemeinschaften in einer noch dramatischeren Situation, auch was die öffentliche Stimmung angeht. Dort erleben wir schon heute eine sichtbare Auswanderungsbewegung, vor allem nach Israel und in die USA.

Bund und Länder haben die Mittel für Sicherheitsmaßnahmen deutlich aufgestockt. Es wird über eine Verschärfung des Paragraphen zur Volksverhetzung nachgedacht. Es gibt einen Aktionsplan gegen Antisemitismus. Reicht Ihnen das als politische Reaktion?

Daniel Botmann: Antisemitismus ist ein sehr dynamisches Phänomen. Es findet immer wieder einen neuen Weg und deshalb müssen die Politik und die Gesellschaft immer wieder neu überlegen, welche Antworten sie auf aktuelle Herausforderungen finden. Das passiert ja auch: Es wurde die Flaggenverbrennung unter Strafe gestellt, ein neuer Strafrechtsparagraf zur verhetzenden Beleidigung geschaffen, als Reaktion auf die vielen Hassbotschaften danach. Ich denke, so wird es auch in Zukunft sein. Der Kampf gegen den Antisemitismus wird leider ein dauerhafter sein.

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