Piwik Webtracking Image

Foto: picture alliance/dpa
Blumenkränze liegen anlässlich des 80. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald und Mittelbau-Dora am 6. April auf dem ehemaligen Appellplatz. Das KZ war am Ende des Zweiten Weltkriegs das größte Konzentrationslager im Deutschen Reich.

Jens-Christian Wagner im Interview : "Wir werden bedroht"

Die KZ-Gedenkstätte Buchenwald muss viel Geld für den Wachschutz ausgeben. Mittel, die für die Bildungsarbeit fehlen, wie der Stiftungsdirektor kritisiert.

02.05.2025
True 2025-05-02T12:35:56.7200Z
6 Min

Herr Wagner, Sie leiten die Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora seit 2020. Hatten Sie damals erwartet, dass Sie sich so oft und deutlich zu politischen Geschehnissen äußern werden?

Jens-Christian Wagner: Ja, denn ich habe vorher sechs Jahre lang die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten geleitet und auch da gab es bereits ziemlich heftige Konflikte politischer Art, unter anderem mit der AfD, die bereits in meiner niedersächsischen Zeit sehr virulent gegen die Gedenkstättenarbeit vorgegangen ist. Insofern war mir klar, worauf ich mich einlasse. Und es hat sich dann auch bestätigt, denn seitdem hat bundesweit der Geschichtsrevisionismus nochmal deutlich zugenommen.

Vor der Landtagswahl in Thüringen im September haben Sie 350.000 Briefe an die Wähler über 65 Jahre verschickt und darin vor der AfD gewarnt. Wie kamen Sie auf diese Idee?

Jens-Christian Wagner: Das fängt mit dem Sommer 2023 an, als sich in Nordhausen (dort liegt unsere zweite Gedenkstätte Mittelbau-Dora) ein AfD-Politiker anschickte, zum Oberbürgermeister gewählt zu werden. Ein Mann, der in den Jahren zuvor mehrfach im Internet geschichtsrevisionistische Papiere gepostet hat, in denen so gut wie keine den Holocaust verharmlosende, schuldumkehrende Legende ausgelassen wird. Einem dieser Papiere hat auch der Landesverfassungsschutz Thüringen ein festes rechtsextremes Weltbild attestiert. Damit sind wir an die Öffentlichkeit gegangen und haben gesagt: Wenn ein Oberbürgermeisterkandidat solche Positionen vertritt, dann werden wir als Stiftung jegliche Zusammenarbeit mit der Stadt Nordhausen einstellen. Und das hat tatsächlich dazu geführt, dass sich die Zivilgesellschaft in Nordhausen geregt hat. Wider Erwarten hat am Ende der demokratische Kandidat die Wahl gewonnen. Das war für mich eine unglaublich ermutigende Erfahrung. Wir werden natürlich nie klären können, was die Briefe bewirkt haben, aber ich wollte mir nicht vorwerfen lassen, vor einer solchen Wahl nicht vor Holocaust verharmlosenden Positionen gewarnt zu haben.

Wie blicken Sie nun nach der Wahl auf die Arbeit der Gedenkstätte in den kommenden Jahren?

Jens-Christian Wagner: In dieser Legislaturperiode wird sich wahrscheinlich konkret für uns, was unsere Finanzierung anbelangt, was unsere Arbeitsmöglichkeiten anbelangt, nicht so viel ändern. Wir haben eine demokratische Regierung, es wird einen Haushalt geben, von dem wir nichts befürchten müssen, denke ich. Aber wir merken bereits seit Jahren sehr stark, dass der Umstand, dass aus den Parlamenten heraus durch die AfD gegen die Gedenkstättenarbeit gerichtete Positionen vorgetragen werden, gewaltbereite Neonazis und Rechtsextreme ermutigt zur Tat zu schreiten.

Foto: picture alliance/dpa
Jens-Christian Wagner
ist seit 2020 Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Von 2014 bis 2020 war er Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen.
Foto: picture alliance/dpa

Was heißt das genau?

Jens-Christian Wagner: Hier werden immer wieder Gedenkbäume für Opfer des KZ Buchenwald abgesägt. Wir haben es wiederholt mit "Heil Hitler"- und "Sieg Heil"-Rufen in den Gedenkstätten zu tun. Es werden Gedenktafeln mit Hakenkreuzen beschmiert, wir werden am Telefon und per E-Mail beschimpft, bis hin zu Morddrohungen. Das ist das gesellschaftliche und das politische Klima, in dem wir arbeiten. Für dieses Klima ist die AfD ein Brandbeschleuniger.

Wie bereiten Sie Ihre Mitarbeiter darauf vor?

Jens-Christian Wagner: Zum einen, indem wir Schulungen machen, die die Mitarbeiter darin stärken, rechtsextreme Symbole, zum Beispiel auf der Kleidung, überhaupt erstmal zu erkennen. Wir bieten Argumentationstraining an, um uns inhaltlich mit dem Thema Geschichtsrevisionismus auseinanderzusetzen, um Signalwörter und Signalfragen, wenn diese in Führungen gestellt werden, zu erkennen. Und es gibt Sicherheitstrainings, die wir auch zusammen mit der Polizei durchführen.

Ohne Wachschutz geht es wahrscheinlich trotzdem nicht?

Jens-Christian Wagner: Es geht leider seit vielen Jahren schon nicht mehr ohne. Leider Gottes geben wir etwa 16 Prozent unseres Etats für Security aus. Geld, das wir eigentlich tausendmal besser für Bildungsarbeit gebrauchen könnten.

Wie verändert sich Ihre Arbeit, wenn die Zeit der Zeitzeugenschaft zu Ende geht?

Jens-Christian Wagner: Insgesamt hat der Abschied von der Zeitgenossenschaft für die Bildungsarbeit hier vor Ort relativ wenig Folgen. Denn bereits seit vielen Jahren sehen 99 Prozent aller Besucherinnen und Besucher hier keine Überlebenden mehr. Es ist vor allem relevant in erinnerungskultureller Hinsicht, weil die Überlebenden in den vergangenen Jahrzehnten mit ihren Organisationen einen Schutzschirm nicht nur über die Gedenkstätten und Erinnerungskultur, sondern insgesamt über unsere Demokratie gespannt haben. Immer wenn es antisemitische oder Vorfälle anderer Art gab, dann haben sie ihre Stimmen dagegen erhoben. Ohne die Überlebenden ist dieser Schutzschirm nicht mehr da. Wir müssen dann selbst dafür sorgen, dass wir beschützt werden, aber auch, dass unsere Demokratie beschützt wird.


„Die wichtigste Frage ist: In welcher Gesellschaft wollen wir NICHT leben? “
Jens-Christian Wagner

Wenn wir über die Vergangenheit reden, ist meist von Erinnerung und Erinnerungskultur die Rede. Begriffe, die Sie kritisch sehen. Warum?

Jens-Christian Wagner: Erinnerung ist etwas anderes als Geschichte. Außerdem wird der Begriff häufig affirmativ verstanden. Was wir aber auf keinen Fall machen wollen, ist irgendeine Form von affirmativem Zugriff auf Geschichte. Sondern wir wollen eine auf kritische Reflexion setzende Auseinandersetzung ermöglichen. Das ist etwas anderes als Erinnerung. Dazu kommt, dass "Erinnerung" häufig moralisch aufgeladen ist, so als gäbe es nur die eine Erinnerung. Geschichte ist aber immer sehr komplex.

Welche Frage sollten wir von heute aus an die Zeit des Nationalsozialismus stellen?

Jens-Christian Wagner: Die wichtigste Frage ist: In welcher Gesellschaft wollen wir NICHT leben? In gewissem Sinn sind die NS-Verbrechen also eine Negativfolie mit einer sehr klaren Botschaft, die lautet: Wir müssen Demokratie, wir müssen unteilbare Menschenrechte und wir müssen die Würde des Menschen achten! Tatsächlich verstehe ich den Artikel eins des Grundgesetzes, die Würde des Menschen ist unantastbar, als die zentrale Lehre aus der Zeit des Nationalsozialismus.

Was folgt daraus für die Arbeit der Gedenkstätte?

Jens-Christian Wagner: Wir wollen sauber und quellengestützt aus der Geschichte herausarbeiten, wie die nationalsozialistische Gesellschaft funktioniert hat. Eine Gesellschaft, die radikal rassistisch und antisemitisch formiert gewesen ist und die auf zwei Säulen stand: Nämlich einerseits auf Integrationsangeboten an die propagierte "Volksgemeinschaft", die sich als etwas Höherwertiges verstanden hat, und auf der anderen Seite auf Ausgrenzung, Verfolgung und am Ende Mord an jenen, die nicht dazugehörten. In einem zweiten Schritt müssen dann Gegenwartsbezüge hergestellt werden. Etwa: Wie sieht es heute mit Verheißungen der Ungleichheit aus? Auf diese Frage müssen die Besucherinnen und Besucher sich selbst eine Antwort erarbeiten. Ich glaube, wenn man das so macht, dann wird den Menschen sehr schnell deutlich, dass die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sehr viel mit ihrem eigenen Leben zu tun hat.


„Es ist schwieriger geworden, an die Jugendlichen heranzukommen.“
Jens-Christian Wagner

Welche Erfahrungen machen Sie aktuell mit Schülergruppen? Mit welchen besonderen Fragen kommt diese junge Generation zu Ihnen?

Jens-Christian Wagner: Tatsächlich hat sich das in den letzten Jahren geändert. Es ist schwieriger geworden, an die Jugendlichen heranzukommen. Unsere Erfahrung ist, dass wir deutlich mehr Zeit brauchen als noch vor fünf oder zehn Jahren. Um die Abstraktionsleistung zu erbringen, aus der Vergangenheit einen Gegenwartsbezug herzustellen, braucht man Zeit. Deswegen sind wir auch dabei, Inhalte und Methoden in der Gruppenbetreuung mit Jugendlichen zu verändern. Insbesondere heißt das, auf intensive, diskursive Formate zu setzen. Vom klassischen Format, die Jugendlichen in einer Führung anderthalb Stunden mit einem Guide durchs Gelände zu schicken, haben wir uns verabschiedet. Ein schnelles Durchschleusen von Besuchergruppen immunisiert niemanden gegen antidemokratisches Gedankengut.

Was halten Sie von einer Besuchspflicht für Schulklassen?

Jens-Christian Wagner: Prinzipiell bin ich gegen verpflichtende Besuche, weil so etwas immer in Abwehr mündet. Aber machen wir uns nichts vor: Auch wenn es keine "Pflicht" gibt: Wenn eine Schulklasse hierher kommt, weil der Lehrer es so plant, ist es ja nicht wirklich freiwillig für die Schülerinnen und Schüler. Wenn wir über Pflichtbesuche sprechen, dann müssen die politisch Verantwortlichen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass auch alle Schülerinnen und Schüler in den Gedenkstätten intensiv betreut werden können. Dann müssen Zuwendungen erhöht werden, damit wir personell und räumlich dazu überhaupt in der Lage sein können. Derzeit könnten wir das gar nicht leisten. Es gibt einen erheblichen Sanierungsstau in den meisten Gedenkstätten.

Mehr zum Thema

Deutsche Ehrenstätte El Alamein
Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge: Mahnmale gegen das Vergessen kämpfen gegen den Verfall
Kriegsgräberstätten mahnen zum Frieden und erinnern an die Opfer von Krieg und Gewalt. Ihr Erhalt ist wichtig, doch die Finanzierung ist kostspielig.
Annette Schavan im Portrait
Annette Schavan im Interview: "Erinnerungskultur zeigt uns, wozu Menschen fähig sind"
Die frühere Bildungsministerin Annette Schavan will die Erinnerungsarbeit mehr in die Breite der Gesellschaft tragen und sieht dabei auch Unternehmen in der Pflicht.
Schüler stehen Gedenkstätte für die in der NS-Zeit ermordeten Sinti und Roma
Schicksale von NS-Opfern: Der lange Kampf um Anerkennung
In Deutschland erinnern heute zahlreiche Gedenkorte an die Opfer des NS-Terrors und ihre Schicksale. Der Weg zur Anerkennung war lang – und dauert oft noch an.

Weitere Informationen