Schicksale von NS-Opfern : Der lange Kampf um Anerkennung
In Deutschland erinnern heute zahlreiche Gedenkorte an die Opfer des NS-Terrors und ihre Schicksale. Der Weg zur Anerkennung war lang – und dauert oft noch an.
Im Goldfischteich im Berliner Tiergarten drehen ein paar Enten ihre Runden, am Ufer sitzen vereinzelt Menschen in der Aprilsonne. Nichts erinnert daran, dass hier während des NS-Regimes ein konspirativer Versammlungsort der Zeugen Jehovas war, an dem Mitglieder der Glaubensgemeinschaft Flugblätter gegen das Regime verteilten. Dass ein Sonderkommando der Geheimen Staatspolizei, kurz Gestapo, hier im August 1936 eine Razzia durchführte und Anwesende verhaftete. Dass in ganz Deutschland Tausende Zeugen Jehovas in Gefängnisse und Konzentrationslager (KZ) verschleppt wurden.
Von Beginn an hatte die Glaubensgemeinschaft Widerstand gegen die Nationalsozialisten geleistet, Hitlergruß und Kriegsdienst verweigert. Mindestens 10.700 deutsche Zeugen Jehovas wurden deswegen enteignet, gefoltert, ermordet. Doch obwohl sie eine der ersten Opfergruppen der Nationalsozialisten waren, war für sie in der deutschen Erinnerungskultur viele Jahrzehnte kein Platz.

Im Berliner Tiergarten - direkt neben dem Bundestag - befindet sich die Gedenkstätte für die in der Zeit des Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma.
Kein Einzelfall: Auch die rund 26 Millionen Menschen, die im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten Zwangsarbeit verrichten mussten, gehörten lange zu den "vergessenen Opfern". Überlebende haben erst zu Beginn der 2000er-Jahre Entschädigungen erhalten. Erst seit 2006 informiert ein Dokumentationszentrum in Berlin-Schöneweide über ihr Leid.
Farbige Stoffdreiecke kennzeichneten die verschiedenen Häftlingsgruppen im KZ
Menschen, die von den Nationalsozialisten als "Asoziale" und "Berufsverbrecher" eingestuft und in Konzentrationslagern interniert wurden - darunter Obdachlose, Prostituierte, Suchtkranke - mussten noch länger auf Anerkennung warten. Für sie gibt es bis heute weder ein offizielles Denkmal noch haben sie Entschädigungen erhalten.
Erst am 13. Dezember 2020 erkannte der Deutsche Bundestag sie als Opfer des Nationalsozialismus an. Für den "Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus" war das ein "Meilenstein". Niemand sei zu Recht im KZ gewesen, "auch Menschen mit dem grünen und schwarzen Winkel nicht", heißt es auf der Homepage. Mit verschiedenfarbigen Stoffdreiecken kennzeichneten die Nationalsozialisten die Häftlingsgruppen im KZ.
„Fast alle Opfergruppen mussten Jahrzehnte lang um Anerkennung kämpfen“
Homosexuelle mussten einen rosa Winkel an der Kleidung tragen. Sie wurden von den Nazis zu Tausenden in den Konzentrationslagern ermordet. Öffentlich erinnerte bis zum Fall der Mauer kaum jemand an sie, wohl auch weil praktizierte Homosexualität in beiden deutschen Staaten noch lange als Straftat galt. Erst 2008 wurde im Berliner Tiergarten ein Denkmal eingeweiht. 2023 gedachte der Bundestag am Holocaust-Gedenktag erstmals der Verfolgten sexueller Minderheiten.
Den Sinti und Roma wurde noch 1956 eine Mitschuld an ihrer Verfolgung vorgeworfen
Den schätzungsweise 500.000 im Dritten Reich ermordeten Sinti und Roma gaben die Richter am Bundesgerichtshof noch 1956 eine Mitschuld an der Verfolgung durch die Nazis. Die Maßnahmen gegen die "Zigeuner" seien wegen deren "Asozialität" rechtlich zulässig gewesen. Erst der unermüdliche Einsatz von Betroffenenverbänden veränderte das Meinungsbild. Seit 1994 ist der 16. Dezember in Deutschland ein nationaler Gedenktag für die verfolgten Sinti und Roma. Seit 2012 erinnert ein Denkmal im Tiergarten an ihr Leid.
Ganz in der Nähe, in der Tiergartenstraße 4, gibt es seit 2014 auch einen Gedenkort für die "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten. Hier befand sich von 1940 bis 1945 die Planungszentrale, von der aus die Nationalsozialisten den Massenmord an Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen organisierten. In ganz Europa fielen ihm rund 300.000 Menschen, darunter viele Kinder, zum Opfer. 400.000 Menschen wurden zwangssterilisiert.

Lange Zeit stigmatisiert: Erst 2008 wurde in Berlin das Denkmal für die verfolgten Homosexuellen eingeweiht.
Doch erst am 29. Januar 2025 erkannte der Bundestag sie offiziell als Verfolgte des Nazi-Regimes an, nach jahrelangem Engagement von Verbänden wie der Bundesvereinigung Lebenshilfe. "Dem Leben von Menschen mit Behinderung ist lange ein anderer Wert beigemessen worden", sagt deren Vorsitzende, Ulla Schmidt. Deshalb seien die Urteile des Erbgesundheitsgerichts - die den Massenmord der Nazis "legitimierten" - erst 1998 aufgehoben worden. Aber auch in den Familien wurde das Unrecht lange totgeschwiegen, weil Behinderung als Makel erlebt wurde", so Schmidt.
1999 verpflichtete der Bundestag Deutschland, allen Opfergruppen zu gedenken
"Fast alle Opfergruppen mussten Jahrzehnte lang um Anerkennung kämpfen", fasst Uwe Neumärker, Direktor der Bundesstiftung Denkmal, zusammen. So dürfe man nicht vergessen, "dass auch das Denkmal für die ermordeten Juden Europas nach langen Debatten erst zum 60. Jahrestag des Kriegsendes im Mai 2005 eingeweiht wurde".
Wer heute durch das weite, wellenartige Feld mit den 2.711 unterschiedlich hohen Betonstelen läuft und den unterirdischen "Ort der Information" besucht, ahnt nichts von den Kontroversen, die seine Entstehung seit den frühen 1990er-Jahren begleiteten. Heftig umstritten war neben der Gestaltung des Denkmals die Frage, warum es allein den sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden und nicht allen Opfern der Nationalsozialisten gewidmet sein sollte.
Am Ende setzte sich die Initiatorin, des Mahnmals, die Publizistin Lea Rosh, mit ihren Mitstreitern durch. Der Bundestag beschloss den Bau im Juni 1999 - verpflichtete Deutschland aber zugleich, "aller Opfer des Nationalsozialismus würdig zu gedenken". Auf diesen Beschluss beriefen sich viele Betroffenenverbände - mit Erfolg. Im Tiergarten entstanden weitere Denkmäler. Ab 2026 soll am Goldfischteich auch eines an das Schicksal der Zeugen Jehovas erinnern.
Aus dem Blick geraten sind aus Sicht von Uwe Neumärker andere frühe Betroffene des NS-Terrors, wie Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter. Auch das Leid von etwa 230 Millionen Zivilisten in den besetzten Gebieten sei wenig erforscht. Zwei vom Bundestag beschlossene Großprojekte sollen das bald ändern. Fest steht: 80 Jahre nach Kriegsende gehen der Erinnerungsarbeit die Themen nicht aus.
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