Christen in Nahost : "Wir sind ein großes Volk ohne Land"
Die St. Jacob-Gemeinde der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien in Berlin pflegt die Kultur eines alten Volkes. Ein Gespräch über Sprache, Heimat und Ökumene.
Herr Pfarrer Üzel, Sie sind Pfarrer der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien in Berlin. Viele Ihrer Gemeindemitglieder sind in den zurückliegenden zehn bis 15 Jahren aus dem Nahen Osten hierher geflohen. Um wie viele Personen ist Ihre Kirche gewachsen?
Pfarrer Abuna Üzel: In unserer Kirche rechnen wir in Familien. In den vier Berliner Gemeinden, die zu unserer Kirche gehören, sind es etwa 100 bis 120 Familien, die seit 2011 als Geflüchtete aus Syrien und dem Irak kamen.
Wie groß ist Ihre Kirche global gesehen und wo leben die meisten Mitglieder?
Pfarrer Abuna Üzel: Weltweit haben wir etwa 2,2 Millionen Mitglieder, mehr als die Hälfte davon lebt in Indien. Eine kleine indischstämmige Gemeinde feiert ihren syrisch-orthodoxen Gottesdienst mittlerweile auch regelmäßig in Berlin. Dabei wird aber ausschließlich Malayalam gesprochen.
Welche Weihnachtsbotschaft haben Sie für Menschen in Deutschland, in Syrien und weltweit?
Pfarrer Abuna Üzel: Die Weihnachtsbotschaft ist etwas Schönes, nicht nur Kinder freuen sich darauf. Das Fest ist sehr wichtig für unsere Gemeinde. Wir denken da auch an die Kranken und besuchen sie. Wenn es zum Beispiel Streit zwischen zwei Familien gibt, ist es Aufgabe des Priesters, des Diakons und anderer Gemeindemitglieder, dazu beizutragen, dass wieder Frieden herrscht.
Anna-Simona Barbara Üzel: Weil Sie Syrien ansprachen: Der Name "Syrisch-Orthodox" bezieht sich nicht nur auf das Land Syrien. Wichtig ist der Zusatz "von Antiochien". Dieser Teil des Namens der Kirche bezieht sich auf einen Ort, der in der heutigen Türkei liegt. Das ursprüngliche Gebiet dieser Gemeinde, die sich als älteste der Christenheit nach der Jerusalemer Urgemeinde versteht, umfasst ein Gebiet, das sich heute über Teile der Türkei, Syriens und des Iraks erstreckt. Wir sind auch keine typisch orthodoxe Kirche, sondern gehören zu den altorientalischen Kirchen. Was unsere Kirche über Jahrhunderte geeint hat, ist die syrisch-aramäische Sprache.
Pfarrer Abuna Üzel: Seit dem Völkermord an den aramäisch-sprachigen Christen 1915 im damaligen Osmanischen Reich und den neuen Grenzen zwischen der Türkei, Syrien und dem Irak haben wir kein richtiges Land mehr.
Pfarrer Abuna Murat Üzel © DBT / Burmann
Welche Folgen hatte das für die aramäisch-christliche Kultur?
Pfarrer Abuna Üzel: Wer sich in den Grenzen Syriens wiederfand, konnte im Alltag nicht mehr syrisch, also aramäisch, sprechen, sondern nur arabisch. Für die nächsten Generationen wurde Arabisch zur Muttersprache. Ich bin 1965 in der Türkei geboren, und da dominierte türkisch. Unsere aramäische Sprache konnten wir nur in geheimen Klöstern und Kirchen lernen. Das hat uns sehr geschmerzt. Wir sind ein großes Volk ohne Land. Aber wir konnten das Aramäische, die Sprache Jesu, die Sprache Abrahams, weitertragen. Ich lehre sie seit 35 Jahren, auch hier in Berlin. Die jungen Leute gehen zur Schule, arbeiten im Beruf, und da müssen sie natürlich deutsch sprechen. Für das Aramäische bleibt da leider oftmals wenig Zeit.
Anna-Simona Barbara Üzel: Syrisch-Aramäisch beherrschen heute nur noch sehr wenige Menschen. Neu-Aramäisch spricht noch ein größerer Kreis. Seit 2011 viele Geflüchtete aus Syrien in unsere Gemeinde kamen, nutzen wir im Gottesdienst auch etwas Arabisch. Es sollen ja alle dem Gottesdienst folgen können. Welche Sprache in unserer Kirche in zehn Jahren vorherrscht, wird sich zeigen.
Wie verwandt sind die Sprachen, Syrisch-Aramäisch, Neuaramäisch und Arabisch?
Anna-Simona Barbara Üzel: Es sind alles semitische Sprachen, wie auch das Hebräische oder das Äthiopische.
Wie steht es um Ihre Kirche in Syrien?
Pfarrer Abuna Üzel: Leider haben wir seit 2011 in Syrien fast alles verloren. Der Sitz unseres Patriarchen ist allerdings noch immer Damaskus. Bis 1920 war der Sitz der Patriarchen über 1.600 Jahre hinweg in der heutigen Türkei. Dann musste unser Patriarch nach Syrien fliehen. Doch dort ist die Lage für uns Christen heute schlimm. 70 Prozent von uns sind seit 2011 entweder nach Australien, Kanada, Amerika oder Europa geflüchtet, oder sie sind getötet worden. Diejenigen, die noch dort sind, leben in bitterer Armut. Wir sammeln als Gemeinde in Berlin regelmäßig Spenden für sie, teilweise auch für deren muslimische Nachbarn, aber unsere Gemeinden sind in Not.
„Christen trauen sich in Syrien derzeit nicht auf die Straße.“
Können Syrer heute in ihr Land zurückkehren und es aufbauen?
Pfarrer Abuna Üzel: Christliche Familien mit Kindern haben meist große Angst davor, zurückzukehren. Es gibt sehr viele Syrer, die zurück wollen, Syrien ist ihre Heimat. Aber das geht nur, wenn die Sicherheit im Land wieder hergestellt wird. Wir haben das im Irak gesehen. Da sind Christen in die Ninive-Ebene zurückgekehrt, und es kam wieder zu Tötungen wie damals während des Völkermords.
Anna-Simona Barbara Üzel: Christen trauen sich in Syrien derzeit nicht auf die Straße. Deshalb wollen besonders die jungen Leute nicht zurück.
Die Kirche auf einen Blick
⚫️ Im Babylonischen Reich war Aramäisch Amtssprache. Jesus Christus soll sie in seinen Predigten gesprochen haben. Aus dem Altaramäischen der Antike entwickelte sich ab dem dritten Jahrhundert das Syrisch-Aramäische.
⚫️ Seit mehr als 1.600 Jahren ist das christlichen Kloster Mor Gabriel in der heutigen Türkei ohne Unterbrechung aktiv. Dort wird das kulturelle christliche und sprachliche Erbe der Aramäer gepflegt. Diese sind eine vorderasiatische Völkergruppe, deren Spuren bis in die Bronzezeit zurückreichen.
⚫️ Heute sieht sich die Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien in der kulturellen und sprachlichen Tradition der Aramäer. Sie versteht sich als universelle Kirche, pflegt aber auch das Erbe des aramäischen Volkes. Nach eigener Darstellung ist sie die älteste Kirche nach der Urgemeinde in Jerusalem.
Wie ist Ihr Kontakt zu muslimischen Syrern in Deutschland?
Pfarrer Abuna Üzel: Ich bin in einer Region aufgewachsen, in der das Leben für Christen oft schwierig war. Unsere Gemeinde hat immer wieder Erfahrungen mit Anfeindungen gemacht, und diese Erinnerungen bewirken bis heute ein gewisses Gefühl von Unsicherheit. Auch hier in Berlin gibt es manchmal die Sorge, dass so etwas wieder passieren könnte. Viele aus unserer Gemeinschaft haben in ihrer Heimat alles verloren. Die Mehrheitsgesellschaft dort gehört einer anderen Religion an, und für uns war das schließlich ein Grund, Schutz in Europa zu suchen. Trotzdem stehen wir im Austausch mit Menschen unterschiedlicher Hintergründe. Es war für uns auch selbstverständlich, Menschen in Not zu helfen, ganz gleich, welcher Religion sie angehören. Unsere Türen standen immer offen. Für mich und meine Familie sowie für unsere Gemeinde kann ich nur sagen: Wir sind zutiefst dankbar. Deutschland bedeutet für uns Frieden und ein neues Zuhause.
Anna-Simona Barbara Üzel: Die Generation meines Vaters hat die Gewalt des frühen 20. Jahrhunderts, den Völkermord von 1915, nicht selbst erlebt, trägt aber das von ihren Großeltern Erlebte noch immer lebendig in sich. Und auch danach hörten die Bedrohungen für christliche Gemeinschaften nicht einfach auf. In unserer Familie gibt es Berichte über Verwandte, die noch Jahrzehnte später Opfer von Übergriffen wurden. Bis in die jüngste Zeit kommt es immer wieder zu Angriffen auf Christen, oft in Regionen, in denen verschiedene religiöse Gruppen Tür an Tür leben und man einander eigentlich vertraut. Für viele fühlt es sich so an, als wiederholten sich Muster der Vergangenheit. Diese Angst verschwindet nicht automatisch, nur weil man heute in einem sicheren Land lebt. Sie ist Teil der kollektiven Erinnerung unserer Gemeinde.
In einer ehemaligen katholischen Kirche in Berlin haben Christen aus dem Nahen und Mittleren Osten eine neue Heimat gefunden.
Haben auch Sie noch diese Angst? Wie empfinden das die Mitglieder Ihrer Gemeinde hier in Berlin?
Anna-Simona Barbara Üzel: Ich arbeite an einer Universität und bin in Berlin aufgewachsen, in einem sehr vielfältigen Umfeld. Gleichzeitig kann ich meinem Vater nicht einfach sagen, dass die Erfahrungen seiner Generation heute keine Rolle mehr spielen. Für unsere Gemeinde hier in Berlin ist Angst vielleicht ein zu starkes Wort, aber ein gewisser Respekt und eine Vorsicht sind da. Man geht behutsam auf neue Begegnungen zu und lässt sich Zeit, Vertrauen aufzubauen, gerade in Freundschaften mit Menschen aus anderen religiösen Traditionen.
Wie ist Ihr Verhältnis zu den anderen christlichen Kirchen?
Pfarrer Abuna Üzel: Wir glauben alle an Jesus und haben ein gemeinsames Evangelium. Das eint uns. Mit der römisch-katholischen Kirche haben wir seit 1984 wieder die eucharistische Gemeinschaft, können zusammen Abendmahl feiern. Auch mit der alt-katholischen Gemeinde in Schöneberg und deren Pfarrer Ulf-Martin Schmidt haben wir einen engen Austausch in der Ökumene. Aber es gibt natürlich theologische Unterschiede. Anders als in der evangelischen Kirche etwa können bei uns nur Männer Priester werden. Trotzdem arbeiten wir gut zusammen. Als unsere Kirche renoviert wurde, hat uns die evangelische Zwölf-Apostel-Kirchengemeinde etwa für fast zwei Jahre aufgenommen. Sie haben die Türen weit aufgemacht für uns – ich weiß nicht, ob das eine orthodoxe Kirche umgekehrt so gemacht hätte. Jeden Tag waren sie noch freundlicher zu uns als am Tag zuvor. Dafür bin ich sehr dankbar, wir werden das nicht vergessen.
Ihre Kirche St. Jacob ist die ehemalige katholische St.-Ludgerus-Kirche, die Sie nun saniert haben. Wie haben Sie das finanziert?
Pfarrer Abuna Üzel: Seit 1984 dürfen wir in dieser Kirche unsere Gottesdienste feiern. Nun haben wir sie saniert. Öffentliche Zuschüsse gab es dafür leider keine. Wir mussten alles über Spenden finanzieren. Auch die Hilfe für Geflüchtete finanzieren wir ausschließlich über Spenden.
2024 haben sich die katholischen Bischöfe gegen die AfD positioniert. Diese sei für Christen nicht wählbar. Wie sehen Sie das?
Pfarrer Abuna Üzel: Deutschland ist ein Land, das Demokratie und Meinungsfreiheit schützt, und viele Menschen, auch wir, sind froh, hier leben zu können. Für Christinnen und Christen spielen Werte wie Menschenwürde, Gerechtigkeit und Verantwortung füreinander eine zentrale Rolle.
Mit einer breiten Mehrheit hat der Bundestag die Massaker an den Armeniern als Genozid eingestuft. Die Türkei zieht aus Protest ihren Botschafter ab.
Abgeordnete haben das Massaker in Armenien erstmals als Genozid bezeichnet. Bundestagspräsident Lammert betont, der Streit über die Deutung gehört ins Parlament.
Die katholische und die evangelische Kirche warnen vor der AfD. Es geht dabei auch um die Vereinnahmung und Umdeutung des Christentums durch Rechtsextreme.