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Kurz rezensiert : Auslagerung der Schuld an muslimische Migranten

In ihrem Buch "Stellvertreter der Schuld" moniert Esra Özyürek eine Auslagerung des Antisemitismus-Vorwurfs an muslimische Migranten.

07.05.2025
True 2025-05-07T17:40:15.7200Z
3 Min

Nach dem Überfall der Hamas auf israelische Zivilisten und dem folgenden Krieg in Gaza kam es überall in Deutschland zu Demonstrationen postkolonialer Linker, mehrheitlich aber Zuwanderer aus dem Nahen Osten. Sozialforscher warnen in diesem Kontext vor einem "israelbezogenen Antisemitismus". Die in Cambridge lehrende Anthropologin Esra Özyürek widerspricht dieser Deutung. Ihre Kernthese: Die Schuld am Holocaust werde mittlerweile an muslimische Minderheiten ausgelagert.

Antisemitische Präventionsprogramme werden auf muslimische Einwanderer zugeschnitten

Özyürek hat in Istanbul studiert und im US-amerikanischen Ann Arbor promoviert. In den vergangenen Jahren ist sie immer wieder nach Deutschland gereist, recherchierte in islamisch geprägten Milieus in Berlin und Duisburg und begleitete mehrfach Gedenkfahrten mit migrantischen Jugendlichen in das Konzentrationslager Auschwitz. Schon seit der Jahrtausendwende, so die Autorin, seien türkisch- und arabischstämmige Deutsche ins Zentrum des Gedenkens an die Shoah gerückt. Antisemitische Präventionsprogramme würden zunehmend auf diese Zielgruppe zugeschnitten: Muslimische Einwanderer sollten die Opferperspektive verstehen, demokratische Werte verinnerlichen und so zu "richtigen Deutschen" werden. 

Für die Nachfahren der Naziverbrecher, glaubt Özyürek, wirkt diese Verschiebung entlastend. Denn sich selbst stelle die deutsche Gesellschaft kaum noch infrage, man habe die eigene dunkle Vergangenheit gründlich aufgearbeitet, nun müsse der "vermeintliche Antisemitismus anderer" bekämpft werden.


Esra Özyürek:
Stellvertreter der Schuld.
Erinnerungskultur und muslimische Zugehörigkeit in Deutschland.
Klett-Cotta,
Stuttgart 2025;
320 S., 26,00 €


Vermeintlicher Antisemitismus? Das ist eine kühne Behauptung der Autorin. Denn auf Pro-Palästina-Kundgebungen werden Parolen wie "From the river to the sea" skandiert, dem jüdischen Staat das Existenzrecht abgesprochen. Es ist legitim, das Vorgehen der rechten Netanjahu-Regierung in Gaza zu kritisieren, doch ein radikaler Teil der Protestierenden bedient sich in der Tat antisemitischer Muster. Umgekehrt ist aber auch richtig, dass die Kinder und Enkel der muslimischen Einwanderer, die das zerstörte Nachkriegsdeutschland mit aufgebaut haben, in ihren familiären Biografien mit dem Holocaust so gut wie nichts zu tun haben - trotz des dann stets angeführten Mohammed Amin al-Husseini, der als Mufti von Jerusalem mit Adolf Hitler kollaborierte.

Özyüreks Analyse, die schon vor zwei Jahren auf Englisch erschien und trotz ihres "deutschen Themas" erst jetzt übersetzt wurde, ist zwar fundiert, schießt in den Schlussfolgerungen aber über ihr Ziel hinaus.

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