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Erinnerungskultur und Migration : Mit Burak in Auschwitz

Wie muslimische Jugendliche für den Holocaust sensibilisieren? Experten empfehlen mehr Wertschätzung ihrer Flucht- und Migrationserfahrungen.

05.05.2025
True 2025-05-05T15:20:31.7200Z
6 Min

Für Burak Yilmaz war es wie ein Sprung ins kalte Wasser. Als sich der in Duisburg geborene Sohn türkisch-kurdischer Eltern 2012 entschied, mit zwölf muslimischen Jugendlichen die Holocaust-Gedenkstätte in Auschwitz-Birkenau zu besuchen, hatte er selbst noch nicht allzu viel mit Erinnerungskultur zu tun gehabt. Der heute 38-Jährige arbeitete während seines Germanistikstudiums als Sozialarbeiter in einem Jugendzentrum in Duisburg-Obermarxloh. 

Yilmaz sucht alternativen Weg für den Besuch von Auschwitz-Birkenau

Dort erfuhr er eines Tages etwas, das ihn empörte: "Ich betreute damals eine Gruppe muslimischer Jugendlicher", erzählt er, "die alle von den Gedenkstättenfahrten ihrer Gesamtschule ausgeschlossen wurden." Die Lehrkräfte hätten wohl gedacht, muslimische Schülerinnen und Schüler seien per se antisemitisch - und sie nach Auschwitz mitzunehmen, könne nur nach hinten losgehen, vermutete er. Sie mussten also zuhause bleiben.

Foto: Burak Yilmaz

Eine Gruppe junger Muslime aus Duisburg besucht das ehemalige Konzentrations-und Vernichtungslager Auschwitz.

"Ich konnte erst nicht glauben, dass sie tatsächlich pauschal ausgeschlossen wurden", sagt er rückblickend. Doch als ihm die Jugendlichen deutlich machten, dass auch sie nach Auschwitz fahren wollten, um zu sehen was dort früher passiert sei, hatte er eine spontane Idee: "Wenn ihr nicht mit der Schule fahren dürft, dann fahren wir eben über das Jugendzentrum dorthin."

Ein halbes Jahr bereiteten Yilmaz und die Jugendlichen, fast alle Palästinenser, sich auf Reise zu Ort vor, an dem die Nationalsozialisten 1,2 Millionen Menschen, vor allem Juden, ermordet hatten. Ausschwitz war bis zu seiner Befreiung vor 80 Jahren das größte deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager. Im Gespräch seien einige althergebrachte Einstellungen - auch antisemitische - revidiert worden, erinnert sich Burak Yilmaz. Dann der Besuch: „Na klar war ich angespannt – ich hatte selber solche Orte vorher noch nie besucht“.

Ein Moment der Sprachlosigkeit

Zudem fürchtete er das zwangsläufige Zusammentreffen mit Jugendgruppen aus Israel: "Ich hatte durchaus Sorge, dass es Auseinandersetzungen gibt." Doch die Sorge war unbegründet. Es kam ganz anders. "Wir haben eine israelische Frauengruppe getroffen, die in der Frauenbaracke einen Gedenkkranz niedergelegt hat", sagt Yilmaz.

Zu Besuch vor Ort

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Ein Jugendlicher aus seiner Gruppe sei spontan auf sie zugegangen und habe sein Beileid ausgedrückt. Daraus habe sich Gespräch entwickelt. "Am Ende haben die Frauen ihre Adresse in Tel Aviv aufgeschrieben und die Jugendlichen eingeladen." Als diese erklärten, dass nicht kommen könnten, da sie staatenlos seien und weder ein- noch ausreisen dürften, blieb das in einem Moment der Sprachlosigkeit so stehen. 

"Da kam vieles zusammen: die deutsche Vergangenheit, die Geschichte des Holocaust, der Umgang der Israelis mit diesem Ort, unser migrantisch-deutscher Identitäts-Twist, der Nahost-Konflikt, die Geschichte der palästinensischen Jugendlichen, die ich betreue." Es sei ein extremer Moment gewesen, erinnert sich Yilmaz. Erst Jahre später habe er geschafft, dies alles in Worte zu fassen, sagt er. Burak Yilmaz' Buch mit dem Titel "Ehrensache: Kämpfen gegen Judenhass" erschien 2021.


„Wenn wir ehrlich wären, müssten wir sagen: Die Erinnerungskultur in Deutschland ist gescheitert.“
Burak Yilmaz (Pädagoge und Podcaster)

Heute sieht der Pädagoge, der inzwischen als Podcaster und Berater zum Thema Rassismus und Erinnerungskultur arbeitet, ebenjene Erinnerungskultur in Deutschland in der Krise. Beleg dafür sei die Zunahme antisemitischer wie auch rassistischer Gewalt. Tatsächlich ist gemäß der jüngsten, im Mai 2024 vorgestellten, Statistik politisch motivierte Kriminalität des Bundeskriminalamtes die Zahl der Straftaten 2023 um 23 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. “Wenn wir ehrlich wären, müssten wir sagen: Die Erinnerungskultur in Deutschland ist gescheitert.", sagt Yilmaz. "Statt uns die ganze Zeit auf die Schulter zu klopfen, sollten wir selbstkritisch reflektieren, warum der Zustand jetzt ist, wie er ist, und was wir als Gesellschaft falsch gemacht haben", fordert er. Die Erinnerungskultur müsse so gestaltet werden, dass sich in einer immer diverser werdenden Gesellschaft alle angesprochen fühlen.

Es braucht mehr Wertschätzung für Migrationserfahrungen

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Dazu gehöre auch ein anerkennender und wertschätzender Umgang mit den Migrations- und Fluchtgeschichten muslimischer Jugendlicher. "Was ich von den Jugendlichen sehr häufig höre, ist die Frage: 'Wie soll mich mein Lehrer für den Holocaust sensibilisieren, wenn er doch selber Vorurteile gegen Muslime hat?'."

Auf Sabeth Schmidthals trifft das eindeutig nicht zu. Die Geschichtslehrerin an einer Berliner Gesamtschule, die ihr zufolge fast 90 Prozent Schülerinnen und Schüler nicht-deutscher Herkunft besuchen, hat über das Thema "Berliner Jugendliche türkischer und arabisch-palästinensischer Herkunft und ihr Verhältnis zur NS-Zeit und zur Shoa" promoviert - und dabei viel gelernt über die Notwendigkeit von Wertschätzung. Mehrfach ist sie mit Jugendgruppen nach Israel gefahren, aber auch nach Nancy in Frankreich, wo einst viele Juden deportiert wurden, oder nach Warschau.


„Empathie und Interesse sind bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund fast leichter herzustellen. Viele wissen, was Flucht bedeutet.“
Geschichtslehrerin Sabeth Schmidthals

"Ich habe das Gefühl, dass die Empathie oder das Interesse am Thema der Judenvernichtung in der Nazi-Zeit bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund fast leichter herzustellen ist, weil sie oft wissen, wovon die Rede ist." In ihrer jetzigen Gruppe sei beispielweise ein jesidisches Mädchen aus dem Irak, das erst bis in die Türkei und dann weiter geflüchtet sei. "Sie weiß, was Flucht bedeutet, was Verfolgung bedeutet", betont Schmidthals.

Strukturen des rassistischen Denkens offenlegen

Aber kann man den Holocaust gleichsetzen mit den Fluchtgeschichten der heutigen Zeit? Nein, absolut nicht, macht sie deutlich. Dennoch sei es wichtig, "Kontinuitäten von Rassismus deutlich zu machen". Es gelte Denkstrukturen offenzulegen, warum Menschen rassistisch denken, um klar sagen zu können: “Wir wollen nicht mehr, was damals passiert ist.”

Die Frage, ob es eine besondere Art von Erinnerungskultur für Muslime braucht, stellt sich für Burak Yilmaz gar nicht. Ihn bedrückt eher, dass an vielen Schulen Geschichte gar kein Pflichtfach mehr ist. Das sei ein riesengroßes Problem. Zudem bestehe die Geschichtsvermittlung häufig nur darin, Zahlen auswendig zu lernen. Häufig stellten Jugendliche die Frage, warum nicht über Russland und die Ukraine, über Israel und Gaza oder über das, was in der in der Türkei passiere, geredet werde. Das alles sei schließlich Thema in den sozialen Medien. "Die Frage ist aber", so Yilmaz, “mit welchen reflektierten Erwachsenen können sie darüber sprechen?”

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