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Buchrezension : Der Rechtsstaat auf der Anklagebank

Sind alle gleich vor dem Gesetz? Nein, sagt der Jurist und Journalist Ronen Steinke in seinem neuen Buch: Arme Menschen haben vor Gericht schlechtere Chancen.

23.05.2022
2023-11-13T15:34:38.3600Z
2 Min

Dass es von Armut betroffene Menschen in eigentlich allen Lebensbereichen nicht leicht haben, ist eine Binse. Das Bildungssystem in Deutschland liefert dafür regelmäßig den Beweis: Und so ist es vermutlich eine naive Hoffnung zu glauben, dass es im Rechtssystem besser laufen würde. Ronen Steinke zerstört mit seinem Buch diese Hoffnung nachhaltig. Vor dem Gesetz sind eben nicht alle gleich, das Versprechen des liberalen Rechtsstaats wird nicht erfüllt: "Die Justiz begünstigt jene, die begütert sind. Und sie benachteiligt jene, die nichts haben", schreibt der Journalist und Jurist - oder anders ausgedrückt: Es gibt eine "neue Klassenjustiz".

Radikale Wortwahl angebracht

Steinke fremdelt allerdings etwas mit diesem von Karl Liebknecht geprägten Begriff. Die Justiz habe sich über die Jahrzehnte schon gewandelt. Weniger der simple "Klassenstandpunkt" sei ausschlaggebend für die von ihm diagnostizierten Probleme, sondern strukturell verankerte Mentalitäten und Vorverständnisse, die sich einerseits schon im Wortlaut der Gesetze zeigten, andererseits in der Art, wie die Normen interpretiert werden.


„Die Justiz begünstigt jene, die begütert sind. Und sie benachteiligt jene, die nichts haben.“
Ronen Steinke, Journalist und Jurist

Bei aller Distanzierung: Die Beispiele, die der Autor auf den sehr gut lesbaren Seiten seines Buches aufzählt, lassen eine radikale Wortwahl durchaus angebracht erscheinen. Schon das einleitende Beispiel etwa stellt den VW-Chef Herbert Diess, dessen von einem Gericht auferlegte Geldauflage im Zusammenhang mit dem Dieselskandal in Höhe von 4,5 Millionen Euro der Konzern bezahlt und von der Steuer absetzt, einem Rentner gegenüber, der für einen kleinen Diebstahl im Supermarkt eine Geldstrafe von 1.350 Euro erhält - was fast seiner gesamten Jahresrente entspricht.

Unter der Lupe: Der Einfluss der sozialen Verhältnisse

So reiht sich Beispiel an Beispiel. Steinke geht dabei systematisch vor, untersucht etwa, wie es eigentlich um das Recht auf Verteidigung und die Pflichtverteidigung bestellt ist und welche Rolle die sozialen Verhältnisse etwa bei der Strafzumessung oder der Verhängung von Untersuchungshaft spielen. Und er wendet sich den sogenannten Ersatzfreiheitsstrafen zu. Diese müssen Verurteilte antreten, wenn sie die ihnen auferlegte Geldstrafe nicht bezahlen. Für Steinke ist es "ein denkwürdiger Moment im noch jungen 21. Jahrhundert", dass dies neuerdings der häufigste Grund ist, warum Menschen in Deutschland eine Gefängnisstrafe antreten. Das Gefängnis wird zum "neuen Schuldenturm". Heiß diskutiert wird dieses Thema aktuell mit Blick auf Menschen, die wegen des Fahrens ohne Fahrschein, eine Straftat, verurteilt werden und später im Gefängnis landen. Häufig trifft es prekarisierte Menschen wie Obdachlose oder Suchtkranke.

So gehört dann auch die Entkriminalisierung des Schwarzfahrens zu den 13 überwiegend rechts- und gesellschaftspolitischen Forderungen, mit denen Steinke sein Buch schließt. Eine bessere Ausstattung der Justiz dürfte weitestgehend konsensfähig sein, die Entkriminalisierung von Drogen, die Abschaffung von Strafbefehlen, der Datenaustausch zwischen Finanzämtern und Gerichten zur Festlegung von Geldstrafen oder die Reform der Pflichtverteidigung bieten hingegen reichlich Stoff zum Diskutieren - innerhalb, aber auch außerhalb der Justiz.

Ronen Steinke:
Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich.
Eine neue Klassenjustiz.
Piper,
Berlin 2022;
272 Seiten, 20,00 €