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Wer am 9. Juni nicht wählen geht, verpasst die Chance, den Kontinent mitzugestalten - klima-, finanz- und auch sicherheitspolitisch.

Europaparlament : Weil es um etwas geht

Wie viel Europäische Union soll es sein - und welche EU? Die Europäer haben Anfang Juni die Wahl. Von ihrem Votum hängt die Zukunft des Kontinents ab.

23.05.2024
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5 Min

Beim Thema Schuldenmachen kommen Grüne und Liberale nicht zusammen. Das gilt auf nationaler Ebene beim Thema Schuldenbremse, aber erst recht auf EU-Ebene. Während der Vorsitzende des Europa-Ausschusses Anton Hofreiter (Grüne) einen kreditfinanzierten EU-Fonds in Höhe von 300 bis 400 Milliarden Euro fordert, um die Ukraine zu unterstützen und gemeinsam europäische Rüstungsgüter zu beschaffen, stellt die FDP-Spitze klar: Der EU-Wiederaufbaufonds aus der zu Ende gegangenen Wahlperiode des Europa-Parlaments bleibt eine Einmaligkeit. "Keine erneute gemeinsame Schuldenaufnahme in der EU", verlangen die Liberalen.

Die Wahl - eine Qual?

Die Wähler können diesen Zwist als nervigen Streit der Ampel-Koalition sehen. Oder eben anders: "Auch unter den Pro-EU-Parteien gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen über die künftige EU-Politik", sagt Funda Tekin, Direktorin des Instituts für Europäische Politik (iep) und Honorarprofessorin an der Universität Tübingen, und ergänzt: "Die Europäerinnen und Europäer haben die Wahl." Für manche mag das eine Qual sein, wenn sie in Europa vom 6. bis zum 9. Juni und in Deutschland am 9. Juni ihre Stimme für das künftige Europäische Parlament abgeben. Dass Demokratie einfach ist, hat aber niemand behauptet. Wer nicht wählt, verpasst eine Chance, den Kontinent mitzugestalten.

Wirtschaft contra Umwelt

Wie entscheidend das EU-Parlament und die dortigen Mehrheitsverhältnisse mittlerweile sind, zeigt ein Rückblick auf die vergangene Wahlperiode. 2019 erreichten die Grünen in Deutschland 20,5 Prozent, wurden zweitstärkste Partei. Nur wenige Monate davor hatte "Fridays for Future" die ersten Massenproteste für mehr Klimaschutz organisiert. Der Zeitgeist war grün.

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Das hatte Folgen für die Politik. Die christdemokratische Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen initiierte den Europäischen Grünen Deal, mit dem die Europäische Union bis 2050 klimaneutral werden will. Ein Großteil der Schulden, die die EU aufnimmt, sollen der grünen Transformation der Wirtschaft dienen.

Dazu kommen eine Reihe von Regulierungen. Seitdem streiten die Parteien nicht nur über die Frage der öffentlichen Schulden, sondern auch über das Verhältnis von Wirtschaft und Umweltschutz.

Am deutlichsten wurde dies beim Verbot von Autos mit Verbrennermotor nach dem Jahr 2035. Aber auch die EU-Verpackungsrichtlinie oder das Recht auf Reparatur waren Gegenstand intensiver Verhandlungen. Thun Nguyen, stellvertretende Direktorin des Jacques Delors Centre der Hertie School in Berlin, nennt das europäische Renaturierungsgesetz als weiteres Beispiel für unterschiedliche Ansätze der verschiedenen Parteien. Dieses schreibt vor, mindestens 30 Prozent der entwässerten Torfgebiete bis 2030 wiederherzustellen. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen habe dieses EU-Gesetz nur dank ausreichender Stimmen der Fraktion der Grünen im Europaparlament durchsetzen können, nachdem ihre eigene Parteienfamilie der Europäischen Volkspartei (EVP) dagegen war. "Auch in der Migrationspolitik sind klare Unterschiede zwischen Grünen und EVP erkennbar", sagt Nguyen.

Von der Leyen zieht erneut ins Rennen

Trotzdem zieht von der Leyen für die EVP ins Rennen, um erneut Kommissionspräsidentin zu werden. "Frau von der Leyen ist mit ihrer Nominierung für eine zweite Amtszeit zumindest kommunikativ auf ihre EVP-Freunde zugegangen, etwa was einen stärker wirtschafts- und wachstumsfreundlichen Kurs angeht", sagt Nguyen. Das haben die EVP-Parteien ihr abgerungen. Nur mit Zugeständnissen auf diesem Gebiet konnte sie beim EVP-Nominierungsparteitag im März in Budapest ihre Aufstellung sichern.

Kommissionspräsident wird indes nur, wer auch eine Mehrheit im Parlament für sich finden kann. Die Sozialdemokraten haben den Luxemburger Nicolas Schmit zu ihrem Spitzenkandidaten für die Wahl gekürt, derzeitiger EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte.

Ohne Parlamentszustimmung kein Haushalt

Wer auch immer die künftige Kommission führt - sie und das neue Parlament haben nicht viel Zeit, sich zu finden. Die Debatte mit den Mitgliedsstaaten über den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen der EU steht an, also die Frage, wie viel Geld die EU in den Jahren nach 2027 ausgeben darf, und vor allem: wofür. Für mehr Klimaschutz, mehr Subventionen an Industrieunternehmen oder Landwirte oder für Verteidigungspolitik? "Ohne Zustimmung des Europa-Parlaments gibt es keinen EU-Haushalt", erklärt iep-Direktorin Tekin.


„Wir brauchen eine bessere EU. Manche Dinge, die derzeit in Brüssel entschieden werden, sollten besser auf die nationale oder lokale Ebene zurückverlagert werden.“
Stefan Kolev, Ludwig-Erhard-Forum für Wirtschaft und Gesellschaft

Da könnte es zum großen Problem für Europas Handlungsfähigkeit werden, wenn die Bürger Europas mit ihren Stimmen den EU-Gegnern im Parlament zu viel Gewicht geben. "Auch wenn es derzeit nicht danach aussieht: Sollten rechtsextreme Parteien und Antieuropäer so viele Stimmen bekommen, dass sie Entscheidungen blockieren können, könnte dies das EU-Parlament lähmen", warnt Europarechtlerin Nguyen.

Warnung vor Anti-EU-Kurs

Bei allen Unterschieden im Detail, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler mahnen, die EU an sich nicht infrage zu stellen. Das hatte der AfD-Politiker Björn Höcke mit seinem Satz "Diese EU muss sterben" vor knapp einem Jahr getan. "Es ist von großem wirtschaftlichem Vorteil, dass wir die Europäische Union haben", sagt dagegen Hans Peter Grüner, Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Mannheim. Der Ökonom lobt nicht nur den europäischen Binnenmarkt.

"Die EU bewirkt auf einigen Feldern großartiges, insbesondere in der Wettbewerbspolitik, wo sie verhindert, dass große Unternehmen zu mächtig werden", erläutert Grüner und erklärt weiter: "Die nationalen Regierungen sind da oft zu industrienah." Soll heißen: Entfernt in Brüssel fällt es der Kommission leichter als nationalen Regierungen, gegen den Missbrauch von Marktmacht vorzugehen. "Die EU-Kommission kann sich der Lobby der nationalen Wirtschaftsvertreter leichter entziehen", sagt Grüner.

Er lobt auch die europäische Rohstoffinitiative. "Die Europäische Kommission hat eine Liste erstellt für bestimmte Rohstoffe, die am Beginn der Wertschöpfungsketten stehen, und will erreichen, dass man sich gemeinsam von einzelnen Importeuren unabhängiger macht", erklärt Grüner. So will die EU sicherstellen, dass andere Staaten die Europäer nicht erpressen, indem sie ihnen wertvolle Rohstoffe vorenthalten, die der Ausgangspunkt für ganze Industrien sind, wie seltene Erden für die Produktion von Batterien und Elektroautos.

Stärkung des Binnenmarkts bedeutend für die nächsten Jahre

Stefan Kolev, wissenschaftlicher Leiter des Berliner Ludwig-Erhard-Forums für Wirtschaft und Gesellschaft sowie Ökonomie-Professor an der Hochschule Zwickau, sagt mit Blick auf die anstehenden Wahlen: "Wir brauchen eine bessere EU. Manche Dinge, die derzeit in Brüssel entschieden werden, sollten besser auf die nationale oder lokale Ebene zurückverlagert werden." Trotzdem gebe es auch Bereiche, in denen mehr EU nötig sei, sagt Kolev: "Wir brauchen insbesondere besser integrierte Energie- und Kapitalmärkte, und dafür müssen EU-Kommission, -Parlament und Europäischer Rat in der nächsten Wahlperiode ein Regelwerk schaffen."

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Die weitere Stärkung des Binnenmarkts, nicht zuletzt mit Blick auf global wettbewerbsfähige Kapitalmärkte, könnte ein bedeutendes Projekt der nächsten fünf Jahre auf werden. Die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament sind für ein Gelingen bedeutend.