
Erinnerungskultur im Wandel : Das Erbe der Zeitzeugen
Immer weniger Überlebende des Holocausts können ihre Geschichte selbst erzählen. „Zweitzeugen“ müssen übernehmen. Ein gleichnamiger Verein engagiert sich.
Den ganzen Mai über kommt Elisheva Lehmann zu dieser einen Parkbank in Scheveningen, einem Küstenort in den Niederlanden. Dort wartet sie auf Bernie – ihre erste große Liebe. Während des Holocausts wurden sie voneinander getrennt. Nach dem Kriegsende hatten sie sich genau an diesem Ort wiedersehen wollen. Lehmann überlebte als Jüdin den Zweiten Weltkrieg im Versteck. Aber was ist mit Bernie passiert?
So erzählt der Verein "Zweitzeugen e.V." auf seiner Webseite die Geschichte von Elisheva Lehmann – mit Fotos und Tonaufnahmen, in denen sie selbst spricht. Es ist eine Geschichte von Verlust und Überleben sowie von einer Liebe, die dem Holocaust zum Opfer fiel.
Wie der Verein Biografien digital zugänglich macht
Elisheva Lehmann starb 2021 – doch ihre Geschichte lebt weiter. Sie wurde dokumentiert, digitalisiert und ist heute für alle online zugänglich. Damit möchte der Verein "Zweitzeugen" ein Zeichen gegen das Vergessen setzen, in einer Zeit, in der immer weniger Überlebende selbst über ihre Erfahrungen sprechen können.
„Dieser Bericht erinnert uns eindringlich daran, dass unsere Zeit fast abgelaufen ist, dass unsere Überlebenden uns verlassen und dass dies der Moment ist, ihre Stimmen zu hören.“
Nach einem aktuellen Bericht der Jewish Claims Conference gibt es weltweit noch rund 200.000 Holocaust-Überlebende. In Deutschland sind es etwa 11.500. Ihr Durchschnittsalter liegt bei 87 Jahren. In 15 Jahren werden laut Prognosen über 90 Prozent von ihnen gestorben sein.
Als die Claims Conference die Zahlen im April dieses Jahres veröffentlichte, sagte ihr Präsident Gideon Taylor: "Dieser Bericht erinnert uns eindringlich daran, dass unsere Zeit fast abgelaufen ist, dass unsere Überlebenden uns verlassen und dass dies der Moment ist, ihre Stimmen zu hören."
Was passiert, wenn die Erinnernden verschwinden?
Jahrzehntelang waren es die Überlebenden, die Zeugnis ablegten: von Deportationen, von den Lagern, von Verlust und Leid. Nun müssen Institutionen neue Wege finden.
Der Historiker Achim Saupe vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam betont, dass persönliche Begegnungen mit Zeitzeugen nur schwer zu ersetzen seien. "Wenn wir uns in einem Raum mit den Zeitzeugen befinden, können wir mit ihnen direkt kommunizieren, ihre Gesten unmittelbar wahrnehmen – und auch ihre Schwierigkeiten spüren, über die Schrecken von damals zu sprechen", sagt Saupe. Diese Unmittelbarkeit verleihe den Zeitzeugen eine besondere "Aura und Autorität", die historische Fakten allein nicht vermitteln könnten.

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Doch erst im Verlauf der Jahrzehnte gewann die Rolle der Zeitzeugen an Bedeutung: In den Nachkriegsjahren bestand gesellschaftlich wenig Interesse an ihren Erzählungen und viele Überlebende schwiegen aus Schmerz oder fehlendem Gehör.
Auch galten Zeitzeugen-Berichte oft als zu emotional, um als objektive historische Quelle zu gelten. "Das war auch eine Form der Abwehr – eine Schutzbehauptung, um sich nicht mit den emotionalen Dimensionen dieser Geschichte auseinandersetzen zu müssen", erläutert Historiker Saupe.
Digitale Formate sollen das Erinnern sichern
Erst in den 1980er Jahren rückten Zeitzeugen-Aussagen stärker in den Fokus, als die Geschichts- und Gedenkstättenbewegung begann, sich intensiver mit der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen. Saupe sagt: "Mit den Berichten der Zeitzeugen konnten abstrakte Orte wie Lager mit persönlichen Erfahrung und Leid verknüpft werden."
Angesichts des Verschwindens der Zeitzeugen sind es nun zunehmend digitale Formate, die das Erinnern sichern sollen. In Israel und den USA arbeiten Museen beispielsweise mit holografisch aufbereiteten Interviews von Überlebenden, die auf Besucherfragen mit vorab aufgenommenen Antworten reagieren.
Kinder und Jugendliche werden zu Zeugen der Zeitzeugen
Andere Initiativen setzten auf die persönliche Begegnung und das Erzählen von Mensch zu Mensch. So auch der Verein "Zweitzeugen", der vor rund 15 Jahren von Sarah Hüttenbrand und Anna Damm gegründet wurde.
Als Studentinnen reisten sie im Rahmen eines selbst entwickelten Studienprojekts nach Israel, um dort Holocaust-Überlebende zu treffen. Aus diesen Gesprächen entstand eine Aufgabe: Die Geschichten sollten nicht nur dokumentiert, sondern von den nächsten Generationen weitergetragen werden – die dadurch zu Zeugen der Zeitzeugen werden.
„Viele Überlebende haben nicht mehr die Kraft, selbst zu sprechen. Sie sind dankbar, dass wir ihre Geschichte weitertragen.“
Und die Aufgabe wird drängender: Laut einer im Januar veröffentlichten Studie der Jewish Claims Conference wissen rund zwölf Prozent der 18- bis 29-Jährigen in Deutschland nicht, was der Holocaust war.
Nachfrage ist größer als der Verein bewältigen kann
Der Verein "Zweitzeugen" hat deshalb Workshops für Kinder und Jugendliche entwickelt. Hier lernen die Teilnehmenden die Lebensgeschichten von Holocaust-Überlebenden anhand von Tonaufnahmen, Fotos und interaktiven Übungen kennen. Im Mittelpunkt stehen nicht abstrakte Jahreszahlen, sondern persönliche Schicksale. "Historisches Wissen lernen die Kinder ganz nebenbei", sagt Ruth-Anne Damm, Mitgründerin und heute Geschäftsführerin des Vereins. Der Zugang erfolge über Empathie: “Wenn ein Kind erfährt, dass Rolf Abrahamsohn nicht mehr Fußball spielen durfte, weil er Jude war, löst das Mitgefühl aus – weil viele Kinder auch gerne Fußball spielen.”
Bislang haben mehr als 45.000 junge Menschen an den Bildungsangeboten teilgenommen. Die Nachfrage ist groß - größer, als der Verein mit seinen derzeit 120 ehrenamtlichen Mitarbeitenden bewältigen kann. Während die Organisation zu Beginn aktiv nach Zeitzeugen suchte, wenden sich mittlerweile auch immer mehr Überlebende direkt an sie, um ihre Geschichte weiterzugeben. "Viele Überlebende haben nicht mehr die Kraft, selbst zu sprechen. Sie sind dankbar, dass wir ihre Geschichte weitertragen", berichtet Damm. So wurden bis heute insgesamt 38 Biografien aufbereitet.
Der Auftrag: Weitererzählen
Auch Elisheva Lehmann teilte ihre Geschichte mit dem Verein: Nachdem sie monatelang auf Bernie gewartet hatte, erhielt sie Ende 1945 schließlich sein Tagebuch per Post. Doch sie fürchtete sich, es zu öffnen – aus Angst, was ihm widerfahren sein könnte. Erst 60 Jahre später, gemeinsam mit ihrer Tochter, fand sie den Mut, einen Blick hineinzuwerfen. Das Tagebuch endete abrupt und führte sie zu eigenen Recherchen. Schließlich erfuhr sie, dass Bernie 1944 in Auschwitz ermordet worden war.
Auf der Webseite des Zweitzeugen-Vereins heißt es am Ende von Lehmanns Geschichte: "Was bleibt?" Und darunter: "Du bist jetzt Zweitzeugin von Elisheva."
So macht der Verein deutlich, was künftig wichtiger wird denn je: Wenn das Erzählen endet, beginnt das Weitererzählen.