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Foto: DBT / Thomas Köhler / photothek
Applaus in der Unionsfraktion nach dem zweiten Wahlgang: Friedrich Merz nimmt die Wahl an.

Neue Bundesregierung übernimmt : Dramatik pur im Bundestag bei Kanzlerwahl

Der Wahlakt im Parlament gerät zwischenzeitlich zum Drama. Wie Friedrich Merz in einer historischen Bundestagssitzung doch noch zum Bundeskanzler gewählt wurde.

06.05.2025
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6 Min

Reichstagsgebäude, Sitz des Deutschen Bundestags, 6. Mai 2025, 16:15 Uhr Nachmittag: Viele Stunden später als geplant hat Deutschland einen neuen Bundeskanzler. Nach dem zweiten Wahlgang konnte Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) verkünden: „Der Abgeordnete Friedrich Merz hat die erforderliche Mehrheit erreicht. Er ist zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt.“

Es war Dramatik pur, was sich an diesem Tag in den Stunden zuvor im Reichstagsgebäude abgespielt hatte. Um 9 Uhr hatte die Präsidentin des Bundestags die Sitzung eröffnet, um 9:05 Uhr den Tagesordnungspunkt 1 aufgerufen, die Wahl des Bundeskanzlers. Auf den Tag genau sechs Monate, nachdem Olaf Scholz (SPD) als Bundeskanzler seinen Finanzminister Christian Lindner (FDP) entlassen und damit seine Kanzlermehrheit im Parlament eingebüßt hatte, sollte Friedrich Merz (CDU) Kanzler werden. Zwischen dem 6. November 2024 und dem 5. Mai 2025 war die verbliebene rot-grüne Regierung ohne Mehrheit im Parlament, die Ampel-Koalition Geschichte. 

Drama statt Festakt

Alles schien angerichtet für einen feierlichen Tag. Botschafter aus aller Welt saßen auf der Besuchertribüne, internationale Medienvertreter im Pressebereich. Stellvertretend für das diplomatische Chor begrüßte die Bundestagspräsidentin den apostolischen Nuntius, den Botschafter des Vatikans in Deutschland. Auch Alt-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) war anwesend, ebenso die ehemalige Präsidentin des Bundestags, Rita Süssmuth (CDU). Die ehemaligen Grünen-Minister Jürgen Trittin und Renate Künast schossen Selfies von der Besuchertribüne. Olaf Scholz saß in der ersten Reihe der SPD-Fraktion.

Auch die Länderbank ist kurz vor Sitzungsbeginn um 9 Uhr gut gefüllt. Bundesratspräsidentin Anke Rehlinger (SPD, Ministerpräsidentin des Saarlands) hat zusammen mit einer Reihe von Ministerpräsidenten anderer Bundesländer zur Linken der Bundestagspräsidentin Platz genommen.


„Der Abgeordnete Friedrich Merz hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 316 Stimmen nicht erreicht.“
Julia Klöckner um 10:05 Uhr

Julia Klöckner berichtet am Morgen, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier habe dem Parlament vorgeschlagen, Friedrich Merz zum Bundeskanzler zu wählen. Es folgt Applaus der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD. Zu diesem Zeitpunkt wird noch Einigkeit demonstriert. Anschließend eröffnet Klöckner den Wahlgang, die Abgeordneten werden einzeln aufgerufen, ihre Stimme in geheimer Wahl abzugeben. 

Wer wie abstimmt, soll für immer ein Geheimnis bleiben. Um 9:35 Uhr fragt die Bundestagspräsidentin, ob alle Abgeordneten ihre Stimme abgegeben haben. Sie schließt die Wahl. Die Schriftführer beginnen mit der Auszählung der Stimmen. Die Sitzung wird dazu für voraussichtlich 25 Minuten unterbrochen. Es dauert länger.

Sechs Stimmen fehlen dem CDU-Kandidaten

Um 10:04 nimmt Bundestagspräsidentin Klöckner ihren Präsidiumsplatz ein, steht nochmal auf, bespricht sich mit ihren Mitarbeitern, setzt sich wieder hin. Um 10:05 bittet sie die Abgeordneten, ihre Plätze wieder einzunehmen, die Stimmen für die erste Runde der Kanzlerwahl sind ausgezählt. Klöckner wirkt konsterniert, ihr Blick ins Plenum lässt nichts Gutes erwarten. 621 der 630 Abgeordneten haben ihre Stimme abgegeben, eine ungültige ist dabei. 310 Ja-Stimmen, 307 Nein-Stimmen, drei Enthaltungen. „Der Abgeordnete Friedrich Merz hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 316 Stimmen nicht erreicht“, stellt Klöckner fest und ergänzt: „Er ist gemäß Artikel 63 Absatz 2 des Grundgesetzes zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland nicht gewählt.“ Sechs Stimmen fehlten Merz. Mindestens 18 Abgeordnete von Union und SPD haben ihn nicht gewählt. 

Entsetzen im Saal. Noch-Kanzler Olaf Scholz sitzt in der ersten Reihe seiner SPD-Fraktion. Auch ihm entgleiten die Gesichtszüge. Noch nie in der bundesdeutschen Geschichte hat ein Kanzler im ersten Wahlgang die nötige Mehrheit verfehlt. Die deutsche Demokratie schlittert in ungewisses Fahrwasser. 

Das politische Beben im Reichstagsgebäude erschüttert nicht nur Berlin. Internationale Medien senden die Schockwellen in die ganze Welt. „Friedrich Merz stolpert im Versuch, nächster deutscher Leader zu werden“, titelt die „New York Times“ auf ihrer Internetseite. Zahlreiche internationale Medien aus Spanien, Schweden oder Italien erklären die Situation in Liveschalten. 

Die Sitzung wird bis auf weiteres unterbrochen. Auf den Fluren des Reichstagsgebäudes herrscht in der Folge Unklarheit. Folgt ein zweiter Wahlgang? Wann? Artikel 63 Absatz 3 des Grundgesetzes wird zitiert. Dort heißt es: „Wird der Vorgeschlagene nicht gewählt, so kann der Bundestag binnen vierzehn Tagen nach dem Wahlgange mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen.“

Merz will raschen zweiten Wahlgang

Zwei Wochen hätte der Bundestag nun also Zeit gehabt, einen Kanzler zu wählen. Eine maximale Zahl von Wahlgängen ist nicht festgelegt. Die Abgeordneten müssen auch nicht Friedrich Merz wählen. Am frühen Nachmittag sickert durch, dass Friedrich Merz noch am Dienstag einen weiteren Wahlgang anvisiert. Um 15:15 Uhr soll es im Plenum weiter gehen. 

Zuvor beraten sich die potenziellen schwarz-roten Koalitionäre in ihren Fraktionssitzungen. Um 14:38 Uhr kehren die ersten SPD-Abgeordneten zurück ins Plenum. Fünf Minuten später folgen die Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion. Das Plenum füllt sich. Zwischenmenschlich kann es fraktionsübergreifend funktionieren. Thorsten Frei, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, kommt ins Plenum, umarmt dort den scheidenden Arbeitsminister Hubertus Heil von der SPD, geht weiter zu Verteidigungsminister Pistorius und schüttelt ihm freundschaftlich die Hand. 

Um 15.08 Uhr kommt Friedrich Merz zurück in den Plenarsaal, sucht direkt das Gespräch mit dem SPD-Generalsekretär Michael Miersch. Merz lächelt leicht, aber seinem Gesichtsausdruck zufolge ist die Anspannung größer als am Vormittag vor dem ersten Wahlgang. Um 15:11 Uhr nimmt der noch amtierende Kanzler Scholz abermals in der ersten Reihe der SPD-Fraktion Platz.

Breit getragener Antrag zur Abweichung von der Geschäftsordnung

Möglich wurde der erneute Wahlgang am selben Tag, weil neben Unions- und SPD-Fraktion auch die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke in Absprachen zugestimmt haben, dass von der Geschäftsordnung an diesem Tag entsprechend abgewichen wird. Dafür war eine Mehrheit von zwei Dritteln der Abgeordneten nötig. Andernfalls wäre eine erneute Abstimmung erst am Freitag möglich gewesen.

Pünktlich um 15.15 Uhr betritt Bundestagspräsidentin Klöckner erneut den Saal. Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD hätten vorgeschlagen, Friedrich Merz zum Kanzler zu wählen, sagt sie. Es folgt eine Debatte zur Geschäftsordnung, in der die Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer von Union, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der Linksfraktion ihren gemeinsamen Antrag begründen, von der Geschäftsordnung abzuweichen.

„Die Wahl des Bundeskanzlers ist die wichtigste Wahl, die dem Bundestag obliegt“, sagt Steffen Bilger (CDU). „Es geht um die Handlungsfähigkeit unseres Staates.“ Daher beantrage seine Fraktion, von der Frist abzuweichen.


„Die Demokratie und ihre demokratischen Prozesse funktionieren.“
Irene Mihalic (Bündnis 90/Die Grünen)

Bernd Baumann (AfD): „Herr Merz, Sie sind gescheitert. Das ist eine historische Niederlage, wie sie es in diesem Bundestag noch nie gegeben hat.“ Das sei kein Wunder angesichts gebrochener Wahlversprechen. Seine Fraktion verweigere sich einem zweiten Wahlgang jedoch nicht.

Katja Mast (SPD) sagt: „Wir haben schnell und zügig einen tragfähigen Koalitionsvertrag vereinbart.“ Deutschland sei der wichtigste Player in Europa und der Welt für Frieden und Demokratie. „Diese Verantwortung ist größer als jeder einzelne Abgeordnete, der hier im Haus sitzt.“ Sie sei „allen demokratischen Fraktionen, CDU/CSU, SPD, Grünen und Linken, dankbar, dass wir diesen Fristverzicht machen. Ansonsten hätten wir drei Tage warten müssen.“ 

Irene Mihalic (Bündnis 90/Die Grünen) erklärt: „Die Demokratie und ihre demokratischen Prozesse funktionieren.“ Das, was an diesem Tag im Bundestag geschehe, sei so im Grundgesetz vorgesehen. „Trotzdem ist es ein historischer Moment, weil Sie aus CDU und SPD nicht in der Lage waren, die nötige Mehrheit für Ihren Kandidaten zu haben. Ihre Fraktion sei bereit, beim parlamentarischen Prozess zu helfen, um rasch Klarheit zu haben. „Das sollten sie aber nicht als Zustimmung zu Ihrer Politik verstehen. Deswegen werden wir Sie, Herr Merz, auch nicht zum Bundeskanzler wählen.“

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Christian Görke (Die Linke) sprach von einer „krachenden Niederlage“ im ersten Wahlgang, nicht nur für Merz, sondern auch dessen „möglichen“ Vizekanzler Lars Klingbeil (SPD). „Wir werden Sie nicht unterstützen, wir wollen nur Klarheit, wie es mit diesem Land weitergeht", sagte Görke. „Das ist keine Zustimmung zu Ihrer Politik.“

325 Ja-Stimmen, Merz ist zum Kanzler gewählt

Immerhin zeigte sich in der Frage des Prozesses Einigkeit: Alle Fraktionen und Abgeordneten im Bundestag stimmten der Abweichung von der Geschäftsordnung zu. Daraufhin eröffnet Bundestagspräsidentin Klöckner den zweiten Wahlgang, diesmal ohne einzelne Namensaufrufe. Um 15:55 ruft sie nochmal alle Abgeordneten auf, ihre Stimme abzugeben, sofern sie das noch nicht getan haben. 

Um 15:59 schließt Klöckner die Abstimmung, die Auszählung beginnt, die Sitzung wird dafür für 20 Minuten unterbrochen. Um 16:13 kommt SPD-Chef Klingbeil zurück ins Plenum und nickt vielsagend. Kennt er bereits das Ergebnis? Spannung liegt in der Luft. Julia Klöckner hat ihren Platz auf dem Präsidentensessel wieder eingenommen. Um 16:17 eröffnet sie die unterbrochene Sitzung

618 Stimmen seien abgegeben worden, eine davon ungültig, eine Enthaltung, 289 Nein-Stimmen. Entscheidend: 325 Ja-Stimmen. Die Mehrheit: Merz ist gewählt. Aus den Koalitionsfraktionen brandet Applaus auf. Die Unionsfraktion erhebt sich. Merz nimmt die Wahl an. Der scheidende Kanzler Olaf Scholz gratuliert, auch SPD-Fraktionschef Lars Klingbeil und zahlreiche Abgeordnete.

Um 16:44 ist Merz bereits bei Bundespräsident Steinmeier im Schloss Bellevue, erhält dort seine Ernennungsurkunde. Von dort geht es zurück in den Bundestag zur Vereidigung. Um 17:31 Uhr spricht Merz die Worte: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“