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Koalition verpatzt Richterwahl : "Ein absolutes Armutszeugnis für Spahn"

Nach der Absetzung der Verfassungsrichterwahlen steht die Unionsführung in der Kritik. Bundestagspräsidentin Klöckner wirbt für einen neuen Anlauf im September.

11.07.2025
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4 Min

Nach dem Scheitern der Verfassungsrichterwahlen am Freitag im Bundestag wirbt Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) dafür, die Wahlen in der nächsten regulären Sitzungswoche im September nachzuholen. Die Wahl von Richterinnen und Richtern für das oberste Gericht sei Aufgabe des Parlaments. "Und ein Parlament sollte sich diese Aufgabe nicht aus der Hand nehmen lassen", erklärte die Parlamentspräsidentin unmittelbar nach der Absetzung der Tagesordnungspunkte. Im Fall einer Nichtwahl kann unter bestimmten Bedingungen auch der Bundesrat die vom Bundestag zu wählenden Verfassungsrichter wählen.

Foto: picture alliance/dpa

In der Kritik: Unions-Fraktionsvorsitzender Jens Spahn (CDU) konnte offenbar seine Fraktion nicht von der Wahl der Potsdamer Rechtsprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf überzeugen.

Den Grünen geht dies offensichtlich nicht schnell genug. Am Freitagnachmittag forderten die Fraktionsvorsitzenden, Britta Haßelmann und Katharina Dröge, eine Sondersitzung des Bundestages in der kommenden Woche. “Jens Spahn und Friedrich Merz müssen zeigen, dass diese Koalition noch über die notwendige Mehrheit im Deutschen Bundestag verfügt. Wir können keine Hängepartie über den Sommer akzeptieren, in der das Land im Unklaren darüber ist, ob wir noch eine stabile Regierung haben", teilten Haßelmann und Dröge mit.

Einmaliger Vorgang in der jüngeren Parlamentsgeschichte

Der Vorgang ist in der jüngeren Parlamentsgeschichte beispiellos. Der Richterwahlausschuss des Bundestags hatte am Montag die Empfehlungen für die drei Kandidaten mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit beschlossen. Doch innerhalb der Unionsfraktion gab es erhebliche Bedenken gegen die Potsdamer Rechtsprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf. Sie war von der SPD als Nachfolgerin von Doris König, deren Amtszeit Ende Juni endete, im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts vorgeschlagen worden. Moniert wurde unter anderem Brosius-Gersdorfs liberale Haltung zum Schwangerschaftsabbruch.


„Heute ist ein schlechter Tag für das Parlament, für die Demokratie und das Bundesverfassungsgericht.“
Britta Haßelmann (Bündnis 90/Die Grünen)

Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hatte sich hinter den Vorschlag gestellt, auch die Unionsfraktionsführung warb bei ihren Abgeordneten für Unterstützung. Offenbar vergebens: Laut Medienberichten hatte die Union nach einer Sonderfraktionssitzung am Freitagmorgen bei der SPD darum ersucht, nur die Wahl von Brosius-Gersdorf zu verschieben. Als Begründung wurden demnach mutmaßliche Plagiatsvorwürfe gegen die Juristin angeführt. Die SPD-Fraktion folgte dem Ansinnen der Union indes nicht und beharrte auf einer Absetzung aller Wahlen.

SPD, Grüne und Linke kritisieren Union

In der Geschäftsordnungsdebatte zu der von der Koalition dann gemeinsam beantragten Absetzung sprach der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Dirk Wiese, von einer "Hetzkampagne gegen eine hoch angesehene Staatsrechtlerin". Es sei kein "guter Tag für die Demokratie". Deutliche Kritik übte Wiese am Koalitionspartner. Die SPD habe bei schwierigen Entscheidungen gestanden. Er erwarte zukünftig, "dass bei solch schwierigen Entscheidungen auch andere stehen".

Scharfe Kritik kam auch von den Grünen. "Heute ist ein schlechter Tag für das Parlament, für die Demokratie und das Bundesverfassungsgericht", sagte die Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann. Sie machte Unionsfraktionschef Jens Spahn für den Vorgang verantwortlich. Ähnlich äußerte sich die Linken-Fraktionsvorsitzende Heidi Reichinnek. Die Absetzung sei ein "absolutes Armutszeugnis für Spahn". 

Union lehnt Gespräche mit Linken und AfD ab

Reichinnek warf der Union zudem vor, keine "stabile demokratische Mehrheit" unter Einbeziehung ihrer Fraktion für den eigenen Wahlvorschlag zu suchen. CDU/CSU hatten erklärt, weder mit der Linken noch mit der AfD ein Gespräch zur Unterstützung ihres Wahlvorschlags zu suchen - obwohl Union, SPD und Grüne im Bundestag alleine nicht über eine Zweidrittelmehrheit verfügen. Allerdings reicht bei der Wahl der Richterinnen und Richter die Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen.

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Der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Bernd Baumann, meinte, der Vorgang zeige die "absolute Instabilität dieser Regierung". Baumann sagte, das Gericht müsse über jeden Zweifel erhaben sein und kritisierte in diesem Zusammenhang die Nominierung von Brosius-Gersdorf. 

Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Steffen Bilger, mahnte, dass die Wahl von Richtern nicht Gegenstand "aufgeheizter politischer Debatten" sein sollte. Er bekräftigte, dass es innerhalb der Unionsfraktion Bedenken gegenüber der Kandidatin gebe.

Neben Brosius-Gersdorf hatte der Wahlausschuss - auf Vorschlag der Union - Günter Spinner, Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht, für den Ersten Senat und - auf Vorschlag der SPD - die Münchener Rechtsprofessorin Ann-Katrin Kaufhold vorgeschlagen. Spinner sollte auf Josef Christ folgen. Christ hatte im November 2024 bereits die Altersgrenze erreicht und ist seitdem geschäftsführend im Amt. Kaufhold soll am Zweiten Senat auf den ausscheidenden Richter Ulrich Maidowski folgen.

Bundesrat könnte theoretisch Wahl übernehmen

Die 16 Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts werden jeweils zur Hälfte vom Bundesrat und Bundestag gewählt. Gelingt es einem der Wahlorgane nicht, einen Kandidaten zu wählen, kann die Wahl unter bestimmten Bedingungen auch vom anderen Wahlorgan übernommen werden. Den sogenannten Ersatzwahlmechanismus hatten Bundestag und Bundesrat in der vergangenen Wahlperiode beschlossen. Er soll eigentlich vor dem Fall schützen, dass eine destruktive Minderheit über eine Sperrminorität eine Richterwahl verhindern kann.

Theoretisch könnte der Bundesrat bei der Wahl des Nachfolgers von Richter Christ zum Zuge kommen. Da sich der Bundestag in der vergangenen Wahlperiode nicht mehr auf einen Nachfolger verständigen konnte, hatte das damalige älteste Mitglied des Wahlausschusses das Bundesverfassungsgericht aufgefordert, eigene Wahlvorschläge zu unterbreiten. So sieht es das Bundesverfassungsgerichtsgesetz vor. 

Das Bundesverfassungsgericht unterbreitete am 22. Mai entsprechende Vorschläge. Auch Spinner hatten die Karlsruher Richterinnen und Richter auf ihre Liste geschrieben. Der Bundestag ist an diese Vorschläge nicht gebunden. Gelingt es dem Parlament aber nicht, innerhalb von drei Monaten nach Vorlage der Vorschläge einen Nachfolger zu wählen, kann auch der Bundesrat die Wahl übernehmen.

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