
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels : Der Forscher als Flaneur
Historiker, Essayist und hellsichtiger Spurenleser in Ost- und Mitteleuropa: Karl Schlögel wird für sein Werk mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt.
Wer in den Gorbatschow-Jahren sein Interesse für die sich langsam öffnende Sowjetunion entdeckte und sich für einen Besuch hinter dem bisher so eisern schweigenden Vorhang interessierte, stand oft vor einem ganz praktischen Problem: Reiseführer, die dem Besucher Land und Städte und ihre Geschichte näherbrachten, gab es praktisch kaum.
Im Fall der sowjetischen Kapitale Moskau war das anders: Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel war schon dort, bevor die Perestroika-Pilgerreisen einsetzten. Sein Buch "Moskau lesen. Die Stadt als Buch" erschien 1984, es war das Ergebnis eines längeren Forschungsaufenthaltes in der sowjetischen Hauptstadt, die damals noch unter der Beobachtung manchmal etwas wilder westlicher Kreml-Astrologie stand.
Diese Flughöhe interessierte Schlögel erkennbar wenig. Bei ihm werden Schwimmbäder, Antiquariate, Metro-Skulpturen, Bahn- und Friedhöfe Auskunftgeber über die Geschichte der Stadt und über diese hinaus über sowjetische Geschichte: Zum Beispiel durch die Beschreibung von "Wsja Moskwa", des Telefonbuchs Moskaus aus den 1920er Jahren, in dem so viele Namen aufgeführt sind, deren Träger dann 1937 und 1938 dem Großen Terror zum Opfer fielen.
Karl Schlögel ist ein Historiker mit den Werkzeugen eines Journalisten
In Schlögels Stadtporträts begegnet man dem Historiker in der Gestalt des Flaneurs, der die Oberflächen auf ihre Tiefen- und Abgründe absucht, Zeitschichten freilegt. Seine Werkzeuge sind die des Journalisten: Er geht hin, schaut drauf, hört zu, schreibt auf. Geschichte offenbart sich für ihn nicht nur in den Schatztruhen der Archive und Bibliotheken, sie wird anschaulich und greifbar im Raum, in Stadtlandschaften, Straßenführungen und Fluchtpunkten, auf Landkarten, im Gebauten.
Später, Schlögel ist da bereits Professor an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), gibt er dieser Phänomenologie eine theoretische Grundlage: "Im Raume lesen wir die Zeit" heißt sein 2003 erschienenes Werk "über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik", in dem er in rund 50 Essays seinen historiografischen Ansatz breit auffächert.
Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
🕊️ Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wird jährlich im Rahmen der Frankfurter Buchmesse in der Paulskirche an Persönlichkeiten verliehen, die durch ihre Tätigkeiten auf den Gebieten der Literatur, der Wissenschaft oder der Kunst zur Verwirklichung des Friedens beitragen. Er ist mit 25.000 Euro dotiert.
🕰️ Er geht auf eine Initiative von Schriftstellern und Verlegern zurück und wurde 1950 erstmals als "Friedenspreis deutscher Verleger" in Hamburg an den deutsch-norwegischen Schriftsteller Max Tau verleihen.
📚 Ein Jahr später wurde er zu einem Preis des gesamten Buchhandels. Im vergangenen Jahr ging er an die Historikerin Anne Applebaum.
Den 1948 im schwäbischen Hawangen geborenen Schlögel zog es zunächst nach West-Berlin zum Studium der Philosophie, Soziologie, Osteuropäischen Geschichte und Slawistik und auch ins Biotop der akademischen K-Gruppen der 1970er Jahre. Das Thema seiner Dissertation - Arbeiterprotest in der Sowjetunion - gibt einen Hinweis auf das Interesse an den Widersprüchlichkeiten des kommunistischen Fortschrittsversprechens.
Schon vor dem Fall des Eisernen Vorhangs hat Schlögel Mittel- und Osteuropa erkundet
1982 führte ihn ein Stipendium des DAAD an die Lomonossow-Universität Moskau. Es folgten Jahre als Privatgelehrter und als Publizist für Rundfunk und Zeitungen und schließlich 1990 die Berufung als Professor in Konstanz und 1995 als Professor für Osteuropäische Geschichte an der Viadrina. Eben jenem Raum jenseits dieses Grenzflusses widmet Schlögel seine vielzähligen Reisebilder, Essays, Städteporträts, die eine Brücke bauen zum Verständnis jener europäischen Regionen, über die sich im Kalten Krieg lange der Himmel geschlossen hatte.
Als Wissenschaftler, als "Archäologe der Moderne", als Seismograph gesellschaftlicher Veränderungen habe er schon vor dem Fall des Eisernen Vorhangs Städte und Landschaften Mittel- und Osteuropas erkundet - so begründet der Stiftungsrat die Entscheidung, den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an Schlögel zu verleihen. "Er hat Kyjiw und Odessa, Lwiw und Charkiw auf die Landkarten seiner Leserinnen und Leser gesetzt und St. Petersburg oder Moskau als europäische Metropolen beschrieben."
Wadephul sieht in Schlögels Schule des Sehens und Begreifens ein Vorbild für Diplomaten
Für sein Buch "Terror und Traum. Moskau 1937" erhielt Schlögel bereits 2009 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, 2018 folgte für "Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt" der Preis der Leipziger Buchmesse.
„Seine Mahnung an uns: Ohne eine freie Ukraine kann es keinen Frieden in Europa geben.“
Für Außenminister Johann Wadephul (CDU) kann Schlögels Schule des Sehens und Begreifens ein Vorbild für Diplomaten sein. Schlögel zeige: "Wer verstehen will, muss die Räume aufsuchen, in denen Geschichte geschrieben wird", sagte Wadephul im September auf einer Konferenz der Leiterinnen und Leiter deutscher Auslandsvertretungen.
Der Historiker verlasse sich nicht nur auf Berichte und Bücher. "Er fährt selbst in die Region. Um sich ein Bild zu machen, zu beobachten, die Stimmung vor Ort, das, was tatsächlich passiert." Genau das sei auch der Alltag der Diplomaten: "Sie sind vor Ort. Sie sammeln die Eindrücke, die kein Bericht, kein Dokument ersetzen kann. Sie geben uns das Fundament, auf dem wir Entscheidungen treffen können."
Früh hat er vor der aggressiven Expansionspolitik Wladimir Putins gewarnt
Sehr früh, sehr klar und entschieden trat Schlögel dem zunehmend imperialen Auftreten des Kremls entgegen. Darauf verweist auch der Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels: "Nach der Annexion der Krim durch Russland hat Karl Schlögel seinen und unseren Blick auf die Ukraine geschärft und sich aufrichtig mit den blinden Flecken der deutschen Wahrnehmung auseinandergesetzt."
Als einer der Ersten habe er vor der aggressiven Expansionspolitik Wladimir Putins und seinem autoritär-nationalistischen Machtanspruch gewarnt. Eindrücklich beschreibe er die Ukraine als Teil Europas und fordere auf, das Land um unserer gemeinsamen Zukunft willen zu verteidigen. "Seine Mahnung an uns: Ohne eine freie Ukraine kann es keinen Frieden in Europa geben."
Putin könne nicht akzeptieren, dass das russische Imperium auseinandergefallen sei
Insbesondere Putins geschichtspolitische Monologe, die den Krieg gegen die Ukraine begründen sollen, lässt Schlögel nicht durchgehen: Der Begriff "Russkij Mir", "Russische Welt" - die Vorstellung, dass Russland überall dort herrschen oder Einfluss haben solle, wo Russen lebten oder die russische Sprache gesprochen werde - markiert er als "imperiales und völkisches Konzept".
Putin komme nicht damit klar, dass das Imperium auseinandergefallen ist. "Er schleppt die ganze unverarbeitete imperiale Geschichte der Russen mit sich, die unbewältigte Vergangenheit Russlands und der Sowjetunion. Zugleich unterdrückt er die Aufarbeitung, und damit das Freiwerden für die Zeit nach dem Imperium", argumentierte Schlögel in einem Interview mit dem "Tagesspiegel" kurz nach dem russischen Einmarsch auf ganzer Front in der Ukraine im Februar 2022.
Schögel empfiehlt, sich selbst ein Bild vor Ort zu machen
Dass er mit solchen Sätzen mitten in parteipolitischen Streit hierzulande gerät, zeigen heftige Reaktionen von prominenten Mitgliedern des "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW) gegen Schlögel. "Friedenspreise sollten nicht denen verliehen werden, die Waffenlieferungen und endlose Kriege befürworten", so formulierte es Wagenknecht selbst - ohne freilich mit einer Silbe darauf einzugehen, wer in der Ukraine einen "endlosen Krieg" vom Zaun gebrochen hat.
Schmähungen wie diesen begegnet Schlögel mit der Empfehlung, sich doch einmal selbst ein Bild vor Ort zu machen. "Die Ukraine will nichts anderes, als in Ruhe gelassen zu werden und ein ganz normales Land zu werden."
Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geht in diesem Jahr an einen großen Essayisten und hellsichtigen Spurensucher in Mittel- und Osteuropa. Der Preis wird Karl Schlögel am kommenden Sonntag in der Frankfurter Paulskirche verliehen. Das ZDF überträgt die Veranstaltung um 11 Uhr live.
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