Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe : Ein Sicherheitsgurt der Demokratie
Die ehemalige Verfassungsrichterin Susanne Baer bietet in „Rote Linien“ einen Blick hinter die Kulissen und in die Arbeitsweise des höchsten deutschen Gerichts.
Der Schatten der im ersten Anlauf verpatzten Richterwahl im Bundestag lag eine Weile nicht bloß auf der Regierungskoalition. Auch das Bundesverfassungsgericht geriet ohne eigenes Verschulden in eine öffentliche Debatte, die sich um parlamentarische Regeln, parteipolitischen Einfluss und die Unabhängigkeit der Justiz drehte. Nach dem erfolgreichen zweiten Versuch und der Wahl von drei neuen Richtern für Karlsruhe hat sich die Aufregung zwar weitgehend gelegt, aber es kann gewiss nicht schaden, einen genaueren Blick auf jenes Gericht zu werfen, dem im Grundgesetz der höchste Rang in Streitfragen um die Verfassung der Republik eingeräumt wird.

Eröffnung der mündlichen Verhandlung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Solidaritätszuschlag am 12. November 2024.
Da kommt das Buch "Rote Linien" der Berliner Professorin Susanne Baer gerade recht, die von 2011 bis 2023 dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts angehörte und nun aus dem Nähkästchen plaudert. Sie richtet sich keineswegs an ein vor allem akademisch interessiertes Publikum, sondern an eine breite Leserschaft, die wissen will, wie das Gericht funktioniert, wie es in der täglichen Praxis arbeitet, wie es zu seinen Entscheidungen gelangt und wie seine Stellung im Gefüge der Gewaltenteilung ist. Der Blick hinter die Kulissen, auch in die Vergangenheit und Gründerjahre des Gerichts, eignet sich vorzüglich als Quelle politischer Bildung, gerade für eine jüngere Generation, die manchen Falschinformationen oder Halbwahrheiten aus dem Netz ausgesetzt ist.
Nicht alle Entscheidungen trafen auf Verständnis und Wohlwollen
Für Baer ist das Bundesverfassungsgericht so etwas wie der "Sicherheitsgurt der Demokratie". Darin folgt sie bekannten Zuschreibungen, die von "Schutzmacht" oder gar "Schutzengeln in roten Roben" berichtet haben. Allerdings setzt sich die Autorin auch mit kritischen Kommentaren über die "Rechthaber von Karlsruhe" auseinander, denn natürlich trafen deren Entscheidungen nicht stets auf Verständnis oder Wohlwollen. Dennoch blieb für Wolfgang Schäuble, den erfahrenen Politiker und überzeugten Demokraten, das Gericht eine "glückliche Innovation" des Grundgesetzes, die es im Laufe der Jahre zu einem weltweit geschätzten Referenzmodell gebracht hat.
Die frühere Gerichtspräsidentin Jutta Limbach hat die doppelte Bedeutung der beiden Karlsruher Senate als "Bürgergericht und Machtfaktor" herausgestrichen. Es sichert die Grundrechte der Bürger ab, schützt den Rechtsstaat und die Regeln der Verfassung vor Missbrauch und zieht "rote Linien" für die Politik.
Susanne Baer beschreibt die Atmosphäre in den ebenso nüchternen wie transparenten Gebäuden des Gerichts, die Beschäftigung der 16 Richter mit Akten und Anträgen, die Beratungen hinter verschlossenen Türen, das lange Ringen um einen Konsens. Das Kollegium setzt sich aus höchst unterschiedlichen Persönlichkeiten zusammen, aus "sehr verschiedenen Juristen", die von Gerichten, Universitäten oder aus politischen Ämtern nach Karlsruhe wechseln.

Susanne Baer:
Rote Linien.
Wie das Bundesverfassungsgericht die Demokratie schützt.
Herder,
Freiburg i.Br. 2025;
384 Seiten, 22,00 €
Dass trotz dieser Diversität "abweichende Meinungen" in den Urteilen des Gerichts eher die Ausnahme sind, spricht nach Ansicht von Baer für die Sorgfalt, mit der in den einzelnen Verfahren widerstreitende Positionen und Interpretationen abgewogen werden. Am Ende dieser oft komplizierten Entscheidungsprozesse steht ein gemeinsamer Beschluss, und falls es doch zu einem "Sondervotum" einzelner Richter kommt, seien darin "politische Muster nicht zu erkennen". So viel zu dem gelegentlich geäußerten Verdacht, dass in den Urteilen von Karlsruhe immer mal wieder eine (partei-)politische Präferenz oder Einflussnahme durchscheine. Baer verbürgt sich mit ihrer juristischen Autorität für die Unabhängigkeit des Gerichts, das "nur mit dieser Verfassung in der Hand im Fall des Falles klärt, was gilt".
Karlsruhe genießt das größte Vertrauen der Bürger
Nun haben die in Karlsruhe verhandelten Kontroversen der vergangenen Jahre - Klimaschutz, Migration, Corona, Sicherheit, Sozialstaat, Meinungsfreiheit - gezeigt, dass zuweilen Zweifel an der Legitimation und Unbefangenheit des Gerichts geäußert wurden, obwohl die "letzte Instanz" unter den demokratischen Institutionen des Landes mit Abstand das größte Vertrauen der Bürger genießt. Es gab Ende 2024 sogar Anlass, per Grundgesetzänderung die Widerstandskraft des Bundesverfassungsgerichts gegen Kampagnen oder Attacken von außen zu stärken. Susanne Baer, die sich vor ihrer Wahl zur Verfassungsrichterin einst als feministische Juristin und lesbische Frau selbst Anfeindungen ausgesetzt sah, glaubt trotzdem unerschütterlich an die Kraft, die in Karlsruhe beheimatet ist: “Wer da die rote Robe trägt, zieht rote Linien, zu Ihrem Schutz, zum Schutz der Demokratie.”
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