Monika Schnitzer im Interview : "Die chinesische Konkurrenz wurde unterschätzt"
Deindustrialisierung, VW-Krise, vorläufige Haushaltsführung - was bedeutet das Ampel-Aus für die deutsche Wirtschaft? Ökonomin Monika Schnitzer gibt Antworten.
Frau Prof. Schnitzer, Deutschland wird von einer Minderheitsregierung geführt, Neuwahlen stehen an, es droht auf Monate politischer Stillstand. Wie schlimm ist das für die Wirtschaft?
Monika Schnitzer: Die Unsicherheit in Deutschland wächst. Das dämpft die Wirtschaft. Die Bürger sparen: Obwohl die Löhne und Gehälter zuletzt schneller gestiegen sind als die Inflation, nehmen die Konsumausgaben nur sehr langsam zu. Die Unternehmen halten sich mit Ausgaben ebenfalls zurück, insbesondere für Investitionen, weil sie nicht wissen, ob sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mit der nächsten Regierung und nach der Trump-Wahl ändern werden.
Welche ökonomischen Folgen hat die vorläufige Haushaltsführung, die ja möglicherweise bis ins zweite Halbjahr 2025 reichen könnte, bis eine neue Koalition einen neuen Haushalt beschließt?
Monika Schnitzer: Anders als in den USA droht in Deutschland keine vollständige Haushaltssperre. Alles, was gesetzlich geregelt ist, wird auch finanziert: Renten, Bürgergeld, Gehälter im öffentlichen Dienst, der Sold der Soldaten - all das wird weiter ausbezahlt. Auch bereits bewilligte Förderprogramme für die Wirtschaft laufen weiter. Schwierig wird es für neue Projekte.
Das betrifft auch den Klima- und Transformationsfonds (KTF). Welche Folgen hat es, wenn Unternehmen dort keine neuen Fördermittel beantragen können für ihre grüne oder digitale Transformation, etwa die Stahlindustrie?
Monika Schnitzer: Das ist nicht dramatisch und wird die Wirtschaft nicht in den Ruin treiben. Es fehlt damit aber ein möglicher positiver Wachstumsimpuls.
Beschleunigt das Ampel-Aus die Deindustrialisierung Deutschlands?
Monika Schnitzer: Die deutsche Industrie hat an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Das liegt einerseits an hohen Arbeits- und Energiekosten. Andererseits sind manche deutsche Produkte auf dem Weltmarkt nicht mehr so gefragt wie bisher. In China vollzog sich der Wechsel vom Verbrenner- zum Elektroauto schneller, als man in Wolfsburg dachte. VW hat es versäumt, ein preiswertes E-Auto zu entwickeln, und sich bewusst zunächst auf das höherpreisige Segment fokussiert. Die chinesische Konkurrenz wurde unterschätzt. Auch andere Branchen leiden unter stärkerer Konkurrenz aus China, beispielsweise der Maschinenbau. Deutsche Produkte sind deutlich teurer als chinesische, aber nicht mehr deutlich besser. Das ist ein Problem.
Liegt das an der Politik, den Managern oder den Arbeitnehmern?
Monika Schnitzer: Die Politik hält die Unternehmen nicht davon ab, bessere Produkte zu entwickeln. Das haben die Unternehmen verschlafen.
Inwiefern beruht der Wettbewerbsvorteil chinesischer Firmen auf Subventionen?
Monika Schnitzer: China hat die Batterietechnik vorangetrieben, auch durch Subventionen, ja. Aber die deutschen Autobauer haben massiv unterschätzt, welche Rolle Software und Unterhaltung in modernen Autos spielen, Stichwort Infotainment, gerade auf dem chinesischen Markt. An diesem Punkt gilt einfach: Deutsche Autos sind für ihren Preis nicht attraktiv genug.
Lässt sich über Lohnkürzungen wie bei VW geplant der Wettbewerbsnachteil gegenüber China wieder ausgleichen?
Monika Schnitzer: Löhne verhandeln die Tarifpartner. Betriebsrat und Gewerkschaften haben in der Vergangenheit, als es VW sehr gut ging, sehr viel für die Belegschaft rausholen können. Jetzt hat VW aber, weil der Hochlauf der Elektroautos noch nicht so erfolgreich läuft, massive Überkapazitäten an Personal und Produktionskapazitäten. Man versucht zwar die Produktivität durch Automatisierung und effizientere Prozesse zu verbessern, wird aber nicht umhinkommen, auch über die umfangreichen Privilegien für die Belegschaft und das Management im Tarifvertrag zu reden. In einer Branche, die vor einer so massiven Transformation steht wie die Automobilbranche, wird man betriebsbedingte Kündigungen nicht mehr kategorisch ausschließen können, wie man das bisher getan hat.
Der Sachverständigenrat plädiert für eine Lockerung der Schuldenbremse des Grundgesetzes. Wie viel Spielraum für höhere Schulden sehen Sie, auch mit Blick auf die EU-Grenze für das jährliche Defizit von drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP)?
Monika Schnitzer: Von der EU-Defizitgrenze ist Deutschland ein ganzes Stück entfernt, hier sehe ich kein Problem. Mit Blick auf Europa gilt übrigens: Ein Sparkurs in der Haushaltspolitik dämpft auch das Wachstum der Wirtschaft. Und Deutschland hat als größte Volkswirtschaft in der EU nicht nur eine Verantwortung für solide Staatsfinanzen, sondern auch für eine dynamische Ökonomie. Wir waren mal die Wachstumslokomotive, davon haben die anderen EU-Staaten profitiert.
Wie stark wollen Sie die Schuldenbremse lockern?
Monika Schnitzer: Die Schuldenbremse ist grundsätzlich sinnvoll, aber sie ist restriktiver als nötig ausgestaltet. Die heutigen Regeln würden dafür sorgen, dass die Schuldenquote in den nächsten Jahrzehnten von heute gut 60 auf unter 40 Prozent des BIP sinkt. Das schränkt den Spielraum für zukunftsorientierte öffentliche Ausgaben unnötig ein. Deshalb sollte die Schuldenbremse stabilitätsorientiert reformiert werden, der Staat höhere Kredite aufnehmen können, allerdings in Abhängigkeit vom Schuldenstand. Bei geringerem Schuldenstand sollte ein höheres Defizit möglich sein als bei einem höheren Schuldenstand. Konkret: bei einer Schuldenstandsquote von unter 60 Prozent sollte ein Defizit von 1 Prozent des BIP möglich sein statt 0,35 Prozent wie aktuell.
Wie viel mehr Schulden wären dann heute möglich?
Monika Schnitzer: Unser Vorschlag würde, wenn wir bei einer Schuldenstandsquote von unter 60 Prozent wären, dem Bund erlauben, knapp 30 Milliarden Euro mehr an Krediten aufzunehmen, als es die geltende Schuldenbremse ermöglicht.
Wie wollen Sie verhindern, dass das Geld in höheren Rentenzahlungen versickert, statt in die Zukunft des Landes zu fließen?
Monika Schnitzer: Die Schuldenbremse verhindert, dass Ausgaben heute im großen Umfang auf Pump finanziert werden. Das ist richtig, um künftige Generationen vor zu hohen Staatsschulen zu schützen und die Handlungsfähigkeit des Staates auch in der Zukunft zu wahren. Sie stellt jedoch nicht sicher, dass ausreichend Geld für Investitionen in die Zukunft ausgegeben wird. Deshalb schlagen wir als Sachverständigenrat Wirtschaft vor, dass ein bestimmter Prozentsatz der Staatsausgaben gesetzlich für Bildung und die Bundeswehr festgeschrieben wird. Für die Verkehrsinfrastruktur schlagen wir vor, Haushaltsmittel verpflichtend in einen Verkehrsinfrastrukturfonds einzustellen, der nur für die Finanzierung von Infrastrukturmaßnahmen genutzt werden kann. Das würde sicherstellen, dass die Politik mögliche zusätzliche Verschuldungsspielräume nicht einfach für konsumtive Maßnahmen wie höhere Renten nutzt, was insbesondere in Wahlkampfzeiten immer populär ist.
Wie hoch sollte die Quote konkret sein?
Monika Schnitzer: Für die Verteidigungsausgaben wäre eine Quote von zwei Prozent des BIP sinnvoll. Das sieht die Vereinbarung der Nato-Staaten vor, wobei künftig mit Blick auf die geopolitische Lage sogar mehr nötig sein könnte.
Gespaltene Meinungen unter Ökonomen
👨🎓 Reihe von Ökonomen befürwortet eine Lockerung: Zahlreiche Ökonomen halten das Korsett der Schuldenbremse in der aktuellen Situation für zu eng.
🚊 Mehr Schulden für Investitionen: Gewerkschafts- und Arbeitgeber-Ökonomen fordern ein 600-Milliarden-Euro-Sondervermögen für Bildung, Kommunen, Straßen, Schienen und Dekarbonisierung
💰 Neues Bundeswehr-Sondervermögen: Der wissenschaftliche Leiter des Ludwig Erhard Forums, Stefan Kolev, plädiert für einen weiteren Sondertopf für die Bundeswehr.
🗝️ Festhalten an Schuldenbremse: Gegen neue Sondervermögen oder eine Lockerung der Schuldenbremse hat sich Lars Feld positioniert. Er ist Leiter des Walter Eucken Instituts und Professor für Wirtschaftspolitik in Freiburg.
Eine Änderung der Schuldenbremse zugunsten des Militärbudgets könnte daran scheitern, dass im nächsten Jahr Fraktionen eine Sperrminorität haben, um die dafür nötige Zweidrittelmehrheit zu verhindern. Was halten Sie vom Vorschlag des Bundeswirtschaftsministers, vor der Neuwahl ein neues Bundeswehr-Sondervermögen zu beschließen, wie es auch der Ökonom Stefan Kolev fordert?
Monika Schnitzer: Wenn es im nächsten Bundestag keine Zweidrittelmehrheit jenseits von AfD und BSW gibt, kann es in der Tat schwer werden, die Schuldenbremse zu reformieren und das Nato-Ziel einzuhalten. Insofern wäre es schon sinnvoll, über Reformen noch vor der Neuwahl nachzudenken. Ein neues Sondervermögen hätte den Nachteil, dass es wieder nur für begrenzte Zeit zusätzliche Finanzmittel ermöglicht und der Haushalt zunehmend intransparent wird. Deswegen plädiert der Sachverständigenrat für eine strukturelle Reform.
Für die Länder ist die Schuldengrenze noch restriktiver als für den Bund, zugleich stehen diese zusammen mit den Kommunen für einen Großteil der öffentlichen Investitionen, insbesondere für Bildung. Ist hier nicht viel mehr Handlungsbedarf als beim Bund bezüglich der Schuldenbremse?
Monika Schnitzer: Das stimmt. Zwar können auch die Länder in einem Konjunkturabschwung Kredite aufnehmen, aber sie dürfen darüber hinaus kein strukturelles Defizit haben. Die EU-Schuldenregeln begrenzen das strukturelle Defizit des Gesamtstaates auf 0,5 Prozent des BIP, wenn die Schuldenstandsquote über 60 Prozent liegt. Die Regel der deutschen Schuldenbremse erlaubt 0,35 Prozent Defizit für den Bund. Es wären also europarechtlich noch 0,15 Prozent für die Länder möglich. Diese Möglichkeit wurde aber nicht ins Grundgesetz geschrieben, die deutschen Regeln sind damit restriktiver als die EU-Vorgaben. Es wäre sinnvoll, das zu ändern. Aber es würde den Spielraum der Länder nicht dramatisch erhöhen.
Wie viel Spielraum brächte das den Ländern?
Monika Schnitzer: Wir sprechen hier für 2025 für alle Länder zusammen über insgesamt rund sieben Milliarden Euro zusätzlichen Verschuldungsspielraum pro Jahr, der sich heute ergeben würde, wenn man den Ländern seinerzeit die 0,15 Prozent ermöglicht hätte.
Wäre mehr sinnvoll, oder vielleicht auch eine höhere Beteiligung der Länder am Steueraufkommen?
Monika Schnitzer: Insgesamt ist das Finanzgefüge von Bund und Ländern reformbedürftig. Eine neue Regierung sollte das angehen, allerdings sind dabei einige dicke Bretter zu bohren.
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