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Gedenken an den Völkermord von Srebrenica : "Bitte vergesst uns nicht"

Vor 30 Jahren töteten serbische Milizen in Srebrenica mehr als 8.300 muslimische Männer und Jungen. Mit Ausnahme der AfD sprechen alle Fraktionen von einem Genozid.

11.07.2025
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4 Min

Den Kindern von Srebrenica hatte der General Schokolade mitgebracht. Vor laufender Kamera tätschelte der Militärchef der Serben im Bosnien-Krieg, Ratko Mladic, einem Jungen die Wange und beschwichtigte die ihn umringende Menge. "Habt keine Angst, niemand wird Euch etwas antun." Busse würden sie schon bald auf bosnisches Gebiet bringen.

Foto: picture alliance / Anadolu / Nihad Ibrahimkadic

Überführung von sieben gerade erst identifizierten Opfern des Massenmords: Fast auf den Tag genau nach 30 Jahren fanden sie am Donnerstag, begleitet von Angehörigen, auf dem Gedenkfriedhof in Potorica ihre letzte Ruhe.

Das Video ist unter anderem in der Srebrenica-Gedenkstätte in Sarajevo zu sehen; es entstand am 11. Juli 1995, nur Stunden nach der Einnahme der kleinen Stadt im Osten Bosniens durch die von Mladic geführten Truppen. In Srebrenica hatten die Vereinten Nationen kurz nach Ausbruch des Bosnien-Krieges eine Schutzzone für die rund 42.000 muslimischen Einwohner und Geflüchteten eingerichtet, Blauhelmsoldaten sollten für ihre Sicherheit sorgen. Doch als Mladics Einheiten die Zone stürmten, leisteten die personell und materiell unterlegenen UN-Soldaten keine Gegenwehr, die angeforderte Nato-Luftunterstützung blieb aus.

Muslimische Bevölkerung wurde zwangsverschleppt und getötet

Was dann folgte, gilt bis heute als schlimmstes Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Noch am 11. Juli ließ der General, der eben noch Schokolade verteilt hatte, Frauen, Kinder und alte Menschen zwangsweise verschleppen. Mehr als 8.300 muslimische Männer und Jungen wurden in den folgenden Tagen von seinen Soldaten in den Wäldern von Srebrenica systematisch getötet und in Massengräbern verscharrt.

Internationale Gerichte stuften die Massaker später als Genozid ein, die UN-Vollversammlung erklärte den 11. Juli im vergangenen Jahr auf Initiative Deutschlands und Ruandas zum weltweiten Gedenktag für den Völkermord.


„Wir hätten den Völkermord verhindern können.“
Boris Mijatovic (Bündnis 90/Die Grünen)

Zum 30. Jahrestag erinnerte diese Woche auch der Bundestag an die grausamen Verbrechen. Für eine Vereinbarte Debatte unterbrachen die Fraktionen am Freitag sogar die Haushaltsberatungen - "ein außergewöhnlicher Schritt, für den ich sehr dankbar bin", sagte Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) vor ihrem Beginn. Der Botschafter von Bosnien und Herzegowina, Damir Arnaut, und zwei Überlebende verfolgten die Debatte auf der Tribüne.

Klöckner wies darauf hin, dass in Srebrenica auch Frauen und Mädchen Opfer geworden seien. "Auch sie wurden gemordet, noch öfter gezielt vergewaltigt und gedemütigt. Wie so oft im Bosnien-Krieg. Wie so oft in allen Kriegen." Angesichts des Scheiterns der Vereinten Nationen in Bosnien stehe der Völkermord von Srebrenica auch für die Einsicht, "dass die Durchsetzung der Menschenrechte konkretes Handeln von uns allen verlangt", mahnte sie.

“Wir brauchen robuste UN-Mandate”

"Srebrenica war möglich, weil wir es zugelassen haben", urteilte Siemtje Möller (SPD). Der 11. Juli sei daher auch ein Anlass, das internationale Recht zu stärken. Ihr Fraktionskollege Falko Droßmann ergänzte, notwendig seien robuste Mandate und entsprechende militärische Mittel zu ihrer Durchsetzung, wenn die internationale Gemeinschaft Schutz zusage.

Nach Ansicht von Boris Mijatovic (Bündnis 90/Die Grünen) braucht Srebrenica "einen festen Platz in der europäischen Erinnerungskultur". 60 einsatzbereite Nato-Flugzeuge über dem Mittelmeer seien den Zivilisten damals nicht zur Hilfe gekommen. "Das muss uns zu denken geben. Wir hätten den Völkermord verhindern können." Dem Botschafter Bosnien-Herzegowinas versicherte er: "Der Deutsche Bundestag erkennt den Völkermord von Srebrenica an." Ihn zu leugnen, obwohl ihn 8.372 namentlich bekannte Opfer belegten, sei ein "Verbrechen", sagte Mijatovic auch in Richtung der AfD-Fraktion.

Für sie hatte unter anderem Alexander Wolf, begleitet von empörten Zwischenrufen der übrigen Fraktionen, die Einstufung als Völkermord kritisiert. Es habe "ein besonderes Geschmäckle", dass ausgerechnet die Vereinten Nationen sich "als Interpreten dieses Massakers" aufschwingen würden. Die Einstufung bezeichnete Wolf als "umstritten" und "politisch unklug", denn sie trage nicht dazu bei, die Spannungen in Bosnien-Herzegowina zu besänftigen.

Für Gökay Akbulut (Die Linke) hat Srebrenica "mit aller Brutalität gezeigt, wohin Nationalismus und Rassismus führen können, wenn wir nicht entschlossen entgegentreten". Der Friedensvertrag von Dayton, der den Krieg 1995 beendete, habe ein fragiles und dysfunktionales Staatswesen hinterlassen, urteilte sie. Die Bundesregierung sollte politische Initiativen für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Bosnien-Herzegowina auf den Weg bringen, anstatt dieses Konstrukt weiter militärisch durch die Bundeswehr abzusichern. 

Nach Ansicht von Michael Brand (CDU) hat die internationale Gemeinschaft "noch immer keine echten Konsequenzen aus Srebrenica gezogen". Brand war 1996 der erste ausländische Student nach dem Krieg an der Universität von Sarajevo und interviewte damals freiwillig Überlebende für das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. "Schwamm drüber war und ist eine verbreitete Haltung", kritisierte er. Wenn Serbiens Präsident Aleksandar Vucic heute Gewalt gegen Studierende und Oppositionelle anwenden lasse und Kriegsverbrecher in serbischen Medien und Schulbüchern als Helden gefeiert würden, müsse Europa Haltung zeigen.

Überlebender berichtet von seinem Martyrium

In einer weiteren Gedenkveranstaltung im Bundestag hatte am Donnerstag der Überlebende Nedzad Avdic über sein Martyrium in den Julitagen 1995 berichtet. Er sei 17 gewesen, als Mladics Truppen in Srebrenica einfielen und ihn zusammen mit Schulfreunden, Lehrern, Verwandten und Nachbarn zu einem der Hinrichtungsorte brachten. "Mit gefesselten Händen, nackt und barfuß, blickte ich auf bereits getötete Menschen. Dann war ich an der Reihe. Mir wurde in den Bauch, in die rechte Hand und in den Fuß geschossen. Es fehlten nur wenige Augenblicke, dann wäre ich in einem Massengrab verscharrt worden." Avdic überlebte zwischen den Leichen. Sein Appell an Europa: “Bitte vergesst uns nicht.”

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800 Ermordete sind bis heute verschollen. Um das Ausmaß der Verbrechen zu vertuschen, ließen die bosnisch-serbischen Truppen Gräber mit Bulldozern wieder öffnen und die Leichen an andere Orte transportieren. Sieben Opfer konnten deshalb erst kürzlich identifiziert werden, ihre Gebeine wurden am Donnerstag auf dem Gedenkfriedhof in Potocari unweit von Srebrenica beigesetzt. Erst 30 Jahre nach ihrer Ermordung kehrten sie zurück. Dorthin, wo der erst 2011 verhaftete und 2017 als Kriegsverbrecher zu lebenslanger Haft verurteilte General Mladic den Kindern Schokolade schenkte und ihnen Sicherheit versprach, bevor er sie ermorden ließ.