
Drama im Bundestag : Blamage ja, Staatskrise nein
International schlagen die Wellen hoch nach der verkorksten Kanzlerwahl, der "Guardian" aus London sieht eine "demütigende Niederlage" für Friedrich Merz.
Als Alt-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am vergangenen Dienstag um 8:56 Uhr auf der Ehrentribüne im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes Platz nimmt, sieht noch alles nach einem feierlichen Hochfest der Demokratie aus. Neben Merkel nehmen die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und der Interims-Finanzminister Jörg Kukies (SPD) Platz. Punkt neun Uhr beginnt die Sitzung. Stellvertretend für die zahlreichen anwesenden Botschafter aus aller Welt begrüßt Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) den Apostolischen Nuntius, den Gesandten des Vatikans in Deutschland.

Unter den zahlreichen Ehrengästen verfolgt auch die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf der Tribüne das Geschehen.
Fünf Minuten nach neun Uhr ruft sie den Tagesordnungspunkt "Wahl des Bundeskanzlers" auf. Um 9.35 Uhr schließt sie den Wahlgang. Die Stimmen werden ausgezählt. Um 10.05 Uhr verkündet sie mit ernster Miene: "Der Abgeordnete Friedrich Merz hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 316 Stimmen nicht erreicht." Wumms. Stille im Plenarsaal. Sechs Stimmen fehlen. Mindestens 18 Abgeordnete von CDU, CSU und SPD haben nicht für den Kandidaten der schwarz-roten Koalition gestimmt. Entsetzen in den Gesichtern von Klöckner, Merz und Olaf Scholz (SPD), der zu diesem Zeitpunkt noch geschäftsführender Bundeskanzler ist und in der ersten Reihe der SPD-Fraktion sitzt. Ende der Feierstunde.
Internationale Schockwelle
Die Schockwellen ergreifen nicht nur Berlin. Deutschland ist blamiert. Die "New York Times" titelt unmittelbar nach dem ersten Wahlgang auf ihrer Internetseite, Merz sei "gestolpert", ebenso formuliert es die Zeitung "Politiken" aus Dänemark. Von einer "demütigenden Niederlage" für Merz im ersten Wahlgang schreibt der "Guardian" aus London.
Befindet sich Deutschland auf dem Weg in eine Staatskrise, wie manche Journalisten schon mutmaßen? Davon will zu diesem Zeitpunkt auf den Fluren des Reichstagsgebäudes noch niemand sprechen. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Thomas Rachel warnt aber nach der ersten Abstimmung, die Koalitionsabgeordneten stünden in der Verantwortung. Sie müssten "zeigen, dass aus der Mitte des Parlaments heraus eine handlungsfähige Regierung" entstehe. Rachel weiter: "Ansonsten besteht die Gefahr, dass extreme Kräfte gewinnen, die ein anderes politisches System wollen." Ähnliche Aussagen macht die ehemalige Vizepräsidentin des Bundestags, Petra Pau (Die Linke): “Alle haben gewusst, dass das die letzte Chance ist, um wieder Vertrauen in die Demokratie und demokratische Prozesse herzustellen. Ich hätte erwartet, dass die Abgeordneten, die die Koalition tragen sollen, sich dieser Verantwortung bewusst sind.”
Mit der bundesweit als "gesichert rechtsextrem" eingestuften AfD gäbe es eine rechnerische Mehrheit mit der Unionsfraktion im Parlament. Zu einer Reporterin aus Frankreich sagt die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch: "Ich brauche keine Neuwahlen, wenn die CDU zur Besinnung kommt." Eine Koalition mit der AfD aber hat CDU-Chef Merz kategorisch ausgeschlossen.
„Wenn es jemand von uns war, hätte ich es wahrscheinlich mitbekommen.“
Auf der Suche nach den Abweichlern schießen bis zum Abend die Spekulationen ins Kraut. Der SPD-Abgeordnete Sebastian Roloff betont nach dem ersten Wahlgang: "Ich habe Grund zu der Annahme, dass es niemand aus der SPD war." Die Wahl ist geheim, niemand kann wirklich wissen, wer die Abweichler waren. Aber Roloff verweist auf das linke Lager, in dem er sich bewege, und in dem sicher viele mit Merz als Kanzler haderten. Aber die 85 Prozent Zustimmung aus der SPD-Urabstimmung über den Koalitionsvertrag seien das entscheidende Argument auch für linke Sozialdemokraten gewesen, Merz zu wählen. "Wenn es jemand von uns war, hätte ich es wahrscheinlich mitbekommen", sagt Roloff. Er warnt vor "einer Situation, die zu einer Staatskrise werden kann". Noch ist es keine Krise, es soll auch keine werden.
Der Tag zeigt, wie schwierig Demokratie ist, dass sie aber in geordneten Bahnen verläuft. Nach dem erfolglosen ersten Wahlgang steht die Frage im Raum, wann ein zweiter Wahlgang folgen könnte. Den Fraktionen von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke gelingt eine Einigung, an diesem Tag von der Geschäftsordnung des Bundestags abzuweichen, um bereits am Nachmittag einen weiteren Wahlgang abzuhalten und nicht erst am Freitag.
Geschäftsordnungsdebatte inmitten der Kanzlerwahl
Für die Fristverkürzung ist eine Zweidrittelmehrheit nötig, die erreicht wird, auch die AfD-Fraktion stimmt zu, das Votum im Plenum fällt einstimmig aus. "Die Demokratie und ihre demokratischen Prozesse funktionieren", erklärt Irene Mihalic (Bündnis 90/Die Grünen) in der Debatte zur Geschäftsordnung. Das, was an diesem Tag im Bundestag geschehe, sei im Grundgesetz vorgesehen. Trotzdem sei dies "ein historischer Moment", weil Union und SPD nicht die nötige Mehrheit für ihren Kandidaten stellen konnten.
Julia Klöckner eröffnet den zweiten Wahlgang, den sie um 15.59 Uhr schließt . Um 16.13 Uhr kommt SPD-Chef Lars Klingbeil zurück ins Plenum und nickt vielsagend. Kennt er bereits das Ergebnis? Spannung liegt in der Luft. Klöckner hat ihren Platz auf dem Präsidentensessel wieder eingenommen. Um 16.17 Uhr verkündet sie das Ergebnis: 618 Stimmen wurden abgegeben, eine davon ungültig, eine Enthaltung, 289 Nein-Stimmen. Entscheidend: 325 Ja-Stimmen. Die Mehrheit. Merz ist gewählt.

Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) vereidigt Kanzler Friedrich Merz.
Aus den Koalitionsfraktionen brandet Beifall auf. Die Unionsfraktion erhebt sich. Merz nimmt die Wahl an. Olaf Scholz gratuliert, auch SPD-Chef Klingbeil und zahlreiche Abgeordnete. Erleichterung. Blamage ja, Staatskrise nein.
Merz leistet Eid auf Urschrift des Grundgesetzes
Um 16.44 Uhr ist Merz bereits bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue, erhält dort seine Ernennungsurkunde. Von da geht es zurück in den Bundestag zur Vereidigung. Merz leistet seinen Eid auf die Urschrift des Grundgesetzes. "Weil es ein so wichtiges Dokument ist, präsentieren wir es mit Handschuhen", erklärt Bundestagspräsidentin Klöckner.
Um 17:31 Uhr spricht Merz die Worte: "Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe." Es ist am Ende doch ein feierlicher Akt.