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Von Deutung und Disput : Der lange Streit um den 8. Mai

Vor 40 Jahren hielt Richard von Weizsäcker seine berühmte Rede zum Jahrestag des Kriegsendes. Nicht als erster sprach er dabei von einem "Tag der Befreiung".

06.05.2025
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Zuletzt war es Gregor Gysi, der im Bundestag dafür warb, den Jahrestag der "Befreiung von der Hitlerdiktatur und der Beendigung des Zweiten Weltkrieges" am 8. Mai 1945 zum bundesweit gesetzlichen Feiertag zu erklären - "zumindest in diesem Jahr, aber eigentlich generell". 

Richard von Weizsäcker habe "als Bundespräsident als Erster im Bundestag erklärt, dass es sich um eine Befreiung auch des deutschen Volkes handelte", sagte der Linken-Abgeordnete am 25. März bei der Konstituierung des neuen Bundestags in seiner Rede als Alterspräsident, jetzt sehe das die "übergroße Mehrheit der Bevölkerung" so.

Die Linke wollte den 8. Mai bereits mehrfach zum gesetzlichen Gedenktag machen

Gysi griff damit eine alte Forderung seiner Fraktion auf, die schon mehr als ein Jahrzehnt hindurch in alljährlich wiederkehrenden Anträgen dafür plädierte, den "Tag der Befreiung" zum gesetzlichen Gedenktag zu erheben. Auch in diesen - immer abgelehnten - Anträgen wird auf die Weizsäcker-Passage aus dessen Rede vom 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes verwiesen, um hinzuzufügen, dass "trotz dieser klaren Aussage" die Bewertung des 8. Mai bis heute umstritten sei und "seine Bedeutung als Tag der Befreiung nicht allgemein anerkannt" werde.

Foto: picture-alliance/dpa/Steiner

Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei seiner Rede am 8. Mai 1985 vor dem Bundestag in Bonn.

Die historische Einordnung des 8. Mai 1945 sorgte in der Bundesrepublik stets für Kontroversen. Dennoch war Weizsäckers Rede vor 40 Jahren ein "gedächtnispolitisches Schlüsselereignis", wie die Historikerin Cornelia Siebeck einmal formulierte. Dabei waren weder sein "klares Bekenntnis zur Notwendigkeit einer anhaltenden Auseinandersetzung mit dem NS-Regime sowie des Gedenkens an dessen Opfer" noch die Charakterisierung des Datums als "Tag der Befreiung" neue und erstmals formulierte Einsichten, doch fanden sich ungeachtet auch kritischer Reaktionen viele Seiten in den präsidialen Ausführungen wieder. 

Das Wegweisende der Rede, urteilte Siebeck vor zehn Jahren, sei dabei "die durch Weizsäcker postulierte neue bundesrepublikanische Basiserzählung: positive Identität und Bekenntnis zur Nation nicht trotz, sondern durch Erinnerung an die NS-Verbrechen".

In der jungen Bundesrepublik wurde dem 8. Mai wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht

In der DDR mit ihrem staatlich verordneten Antifaschismus war der 8. Mai als "Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus" von 1950 bis 1966 sowie noch einmal 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes ein gesetzlicher Feiertag. In der Bundesrepublik wurde dem Datum zunächst weniger Aufmerksamkeit entgegengebracht und eine Janusköpfigkeit zwischen Niederlage, Zerstörung, Zusammenbruch und Vertreibung einerseits und der Chance zum Neubeginn, zum Besseren auf der anderen Seite zugeschrieben. 

Zwar verabschiedete der Parlamentarische Rat 1949 das Grundgesetz bewusst exakt vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa, doch auch dabei schwang diese Ambivalenz des Datums mit. So zeigte sich der spätere Bundespräsident Theodor Heuss vor dem Parlamentarischen Rat skeptisch, "ob man das Symbol greifen soll, das in solchem Tag liegen kann". Der 8. Mai 1945, argumentierte er, bliebe für Deutschland die "tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte", weil "wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind".

1965 wollte Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU) in einer Rundfunk- und Fernsehansprache zum 20. Jahrestag "der deutschen Kapitulation" von einem Tag der Befreiung nicht sprechen. "Wenn mit der Niederwerfung Hitler-Deutschlands Unrecht und Tyrannei aus der Welt getilgt worden wären, dann allerdings hätte die ganze Menschheit Grund genug, den 8. Mai als einen Gedenktag der Befreiung zu feiern", begründete er seine Haltung.

Willy Brandt betonte die Befreiung anderer Völker von Fremdherrschaft

Willy Brandt (SPD), der fünf Jahre danach im Bundestag als erster Bundeskanzler eine Regierungserklärung zum 8. Mai abgab, stellte dabei zunächst darauf ab, dass ein Vierteljahrhundert davor der "totale Krieg des nazistischen Reiches in der totalen Niederlage" endete. Obgleich selbst zur NS-Zeit im Exil gewesen, wertete er dies nicht als Befreiung auch der Deutschen: "Was in jenen Tagen vor 25 Jahren von unzähligen Deutschen neben der persönlichen als nationale Not empfunden wurde, war für andere Völker die Befreiung von Fremdherrschaft, von Terror und Angst", unterschied er ausdrücklich, auch wenn der Mehrheit des deutschen Volks die Chance zum Neubeginn erwachsen sei.

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Auf Brandts Regierungserklärung antwortete damals für die CDU/CSU-Fraktion Richard von Weizsäcker. Auch wenn manche Passagen in seiner späteren Rede von 1985 widerklingen sollten, kam der Begriff "Befreiung" dabei nicht vor. Demgegenüber hatte bereits zwei Tage zuvor Gustav Heinemann, der dritte Bundespräsident, diesen Gedanken in einer Rede zumindest angedeutet: "Wir hatten ungezählte dunkle Stunden zu ertragen, ehe die verbrecherische Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten von uns genommen wurde", sagte Heinemann. 

Ein halbes Jahr vorher hatte er seine erste Auslandsreise in die Niederlande bereits zu der Bemerkung genutzt: “Wir haben das Hitler-Regime nicht zu verhindern gewusst und auch nicht aus eigener Kraft abgeschüttelt. Umso mehr haben viele Menschen auch in Deutschland seinen Zusammenbruch als Befreiung empfunden.”

Bundespräsident Scheel spricht von einem widersprüchlichen Tag

An diese Sicht knüpfte weitere fünf Jahre später zum 30. Jahrestag des Kriegsendes Heinemanns Amtsnachfolger Walter Scheel an: "Wir wurden von einem furchtbaren Joch befreit, von Krieg, Mord, Knechtschaft und Barbarei", führte Scheel in der Bonner Universitätskirche aus und erinnerte daran, "dass diese Befreiung von außen kam, dass wir, die Deutschen, nicht fähig waren, selbst dieses Joch abzuschütteln, dass erst die halbe Welt zerstört werden musste, bevor Adolf Hitler von der Bühne der Geschichte gestoßen wurde".

So sah auch Scheel im 8. Mai 1945 einen "widersprüchlichen Tag in der deutschen Geschichte". An ihm "fiel nicht nur die Hitler-Diktatur, es fiel auch das Deutsche Reich", konstatierte er, "der Staat der Deutschen", für Generationen von ihnen das geliebte Vaterland: "Wir Deutsche haben heute keinen Anlass zu feiern".

Der Begriff der Befreiung rückte zunehmend in den Vordergrund

Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) äußerte sich zum 8. Mai 1975 vor seinem Kabinett mit der Feststellung: "Der 8. Mai brachte uns die Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft". Einen Anlass für die Deutschen zum Jubeln sah indes auch er nicht: Zwar habe man vor 30 Jahren "aufatmen" können wie alle Völker unter Hitlers Schreckensherrschaft, aber mindestens ebenso stark sei die Trauer um die Toten in den Konzentrationslagern, auf den Schlachtfeldern und in den zerbombten Städten.

Foto: picture-alliance / dpa

US-Präsident Ronald Reagan (2.v.r.) und Bundeskanzler Helmut Kohl (3.v.r.) am 5. Mai 1985 auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg.

Der Begriff der "Befreiung" im Kontext des Kriegsendes rückte also auch in der Bundesrepublik mit den Jahrzehnten zunehmend in den Vordergrund als zumindest gleichrangiger Aspekt, ungeachtet seiner offiziellen Deklamation und Vereinnahmung durch den ostdeutschen Systemkonkurrenten. 

Schon Heinemann hatte bei seinem Besuch in den Niederlanden 1969 darauf verwiesen, dass inzwischen "eine neue Generation aufgewachsen" sei und mehr als die Hälfte der jetzt in Deutschland Lebenden "die Hitlerzeit nicht mehr bewusst miterlebt" habe. Deren Fragen zur NS-Vergangenheit rückten in den 1960er Jahren immer stärker in die öffentliche Diskussion, und die Blicke auf den Tag des Kriegsendes wurden differenzierter.

Dessen 40. Jahrestag ging 1985 eine Diskussion über die Ausgestaltung des fast zeitgleichen Staatsbesuchs von US-Präsident Ronald Reagan voran. Dabei stand zunächst die Idee gemeinsamen Gedenkens mit dem Gast zum 8. Mai im Bundestag im Raum, als Zeichen der Versöhnung einstiger Kriegsgegner. Weizsäcker, seit dem Vorjahr Bundespräsident, setzte indes eine Gedenkveranstaltung ohne ausländische Beteiligung im Plenarsaal des Parlaments mit sich als Hauptredner durch.

Bitburg-Affäre überlagerte 1985 Kohls Rede zum 8. Mai

An Reagans als Versöhnungsgeste gedachten Besuch des Soldatenfriedhofs in Bitburg mit Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) am 5. Mai 1985 hatte sich schon im Vorfeld auf beiden Seiten des Atlantiks viel Kritik entzündet, nachdem bekannt geworden war, dass dort auch SS-Angehörige begraben waren. Die "Bitburg-Affäre" überlagerte in der öffentlichen Wahrnehmung auch Kohls Rede vom 21. April zum 40. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, in der er den 8. Mai 1945 als "Tag der Befreiung" für die Deutschen wertete - wie schon knapp zwei Monate zuvor in einer Bundestagsrede zur Lage der Nation. 

Kohls Festhalten an dem Besuch in Bitburg "radierte die Erinnerung an seine Ansprache vom 21. April in derselben Geschwindigkeit aus, in der Weizsäckers Rede kanonisch werden sollte", konstatierte der Historiker Norbert Frei in seinem 2023 erschienenen Werk über die Ausführungen der Bundespräsidenten von Heuss bis Weizsäcker zur NS-Vergangenheit. Und für Weizsäckers damaligen Pressesprecher Friedbert Pflüger bot die Diskussion über Bitburg "dem Bundespräsidenten die Chance zu einer großen Rede", mit der sich "die Dinge zurechtrücken, missverständliche Signale korrigieren und die polarisierenden Lager einen" ließen.

Weizäckers Rede war Höhe- und Wendepunkt deutscher Gedenkpolitik

Auf seine Rede hatte sich Weizsäcker monatelang vorbereitet, "Gespräche aller Art geführt und viel gearbeitet", wie er später in seinen Memoiren schrieb. Dabei habe er "nicht eigentlich neue Einsichten" vorzutragen gehabt, hätten doch seit Heuss alle seine Vorgänger "eindeutige Worte zur Vergangenheit gesprochen". Dennoch gilt "die Rede", wie seine Ansprache bald nur noch tituliert wurde, als ein Höhe- und Wendepunkt deutscher Gedenkpolitik. Ein Grund für die gewaltige Resonanz mag auch in dem Bemühen Weizsäckers gelegen haben, unterschiedliche Erfahrungen und Positionen seiner Zuhörer aufzugreifen und einzubinden.


„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der national-sozialistischen Gewaltherrschaft.“
Richard von Weizsäcker

Dies zeigen auch die Formulierungen, in die er die Charakterisierung als "Tag der Befreiung" einbettete: "Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewusst erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele waren einfach nur dafür dankbar, dass Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere Deutsche vor dem geschenkten neuen Anfang", führte der Bundespräsident aus, bevor er diese gegensätzlichen Erlebniswelten in seiner Kernthese zusammenzuführen suchte: “Dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.”

Weizsäcker spricht von “Ende eines Irrwegs deutscher Geschichte”

Niemand werde "um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten", fügte Weizsäcker hinzu, doch liege die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit "im Beginn jener Gewaltherrschaft", die zum Krieg führte: "Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen", mahnte er und sah "allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrwegs deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg".

Das "lebhafte" Echo auf die in der Folgezeit millionenfach verbreitete und in zahlreiche Sprachen übersetzte Rede wertete Weizsäcker in seinen Erinnerungen als "ermutigendes Zeichen", auch wenn es "zuweilen kontrovers" gewesen sei. 15 Jahre später, im Jahr 2000, konstatierte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), niemand bestreite mehr ernsthaft, "dass der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung gewesen ist - der Befreiung von nationalsozialistischer Herrschaft, von Völkermord und dem Grauen des Krieges".

Kritik am Begriff “Tag der Befreiung” von Seiten der AfD

Seitdem haben in den zurückliegenden Jahren eine ganze Reihe von Bundesländern dem 8. Mai den Status eines gesetzlichen Gedenktages verliehen; Berlin begeht im laufenden Jahr einmalig den 80. Jahrestag als gesetzlichen Feiertag - wie schon im Jahr 2020 den 75. Jahrestag.

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Gleichwohl ist der Konsens über die Einordnung des Datums als "Tag der Befreiung" so allgemein nicht in Deutschland. Das zeigen nicht nur Äußerungen wie die 2017 von Thüringens AfD-Fraktionschef Björn Höcke erhobene Forderung nach einer "erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad". Brandenburgs AfD-Landtagsfraktion etwa kritisierte es jüngst als "unangemessen und geschichtsvergessen", von einem 80-jährigen Jubiläum der Befreiung zu sprechen, und forderte die Landesregierung in einem Antrag auf, "den Begriff ,Tag der Befreiung' zu unterlassen".

Der Antrag wurde Ende März abgelehnt, zwei Tage nach Gysis Alterspräsidenten-Ansprache im Bundestag. Eine Mehrheit im Potsdamer Landesparlament fand dagegen ein Prüfauftrag der SPD/BSW-Koalition, in Brandenburg "den 8. Mai als Tag der Befreiung im Fünfjahresturnus zum gesetzlich anerkannten Feiertag" zu erklären - bei Enthaltung der CDU und gegen die Stimmen der AfD-Fraktion.