
Gastkommentare : Gibt es übertriebene Kriegsrhetorik in Deutschland? Ein Pro und Contra
Ist die Debatte um die deutsche Verteidigungspolitik nach Pistorius’ Ruf nach ‚Kriegstüchtigkeit‘ von übertriebener Kriegsrhetorik beherrscht? Ein Pro und Contra.
Pro
In der Rhetorik der Kriegstüchtigkeit droht die "Friedenstüchtigkeit" unterzugehen

"Wir müssen kriegstüchtig werden." Es ist jetzt rund zwei Jahre her, dass Verteidigungsminister Boris Pistorius diesen Satz in einem Fernsehinterview unterbrachte. Und eines muss man dem SPD-Politiker lassen: Es war ein geniales Stück strategischer Kommunikation, gerade weil der Begriff so sehr polarisiert. Die einen sehen ihn als Befreiung zum Realismus, was die russische Bedrohung und die notwendige "Wehrhaftigkeit" (noch so ein Wort) betrifft. Die anderen empören sich über die Rhetorik, die den Minister als "Kriegstreiber" entlarve.
Allerdings: Beide Extrempositionen werden der Sache nicht gerecht. Pistorius strebt den Krieg, von dem er spricht, natürlich nicht an. "Kämpfen zu können, um nicht kämpfen zu müssen", das ist sein Ziel und zugleich ein Grundprinzip legitimer und notwendiger Landesverteidigung - auch wenn die Frage erlaubt sein muss, ob dafür das jetzt geplante Maß an Hochrüstung notwendig ist.
Das Problem der Kriegsrhetorik aber liegt woanders: Wer Kriegstüchtigkeit zum zentralen Motiv der Debatte machen will, der hat vor der vermeintlichen Alternativlosigkeit der dauerhaften militärischen Konfrontation mit Russland fast schon kapituliert - und tilgt das Ideal einer künftigen Friedensordnung aus dem Bedeutungsfeld seiner Worte.
Ja, eine solche Friedensordnung ist derzeit sehr weit weg. Aber wenn sie in der Gesellschaft und ihrem Sprechen aus dem Blick gerät, bedeutet das ein Stück Resignation gegenüber den Ideologien derjenigen Machthaber, die die Welt gewaltsam nach ihrem Bild formen wollen. In Demokratien dagegen, das ist sicher Konsens, dient auch militärische Rüstung dazu, "friedenstüchtig" zu werden. Genau das aber droht in der Rhetorik der Kriegstüchtigkeit unterzugehen.
Contra
Davon kann keine Rede sein - Verteidigungsminister Pistorius ist kein Säbelrassler

Als Verteidigungsminister Boris Pistorius die Forderung erhob, dass Deutschland "kriegstüchtig" werden müsse, da wusste der SPD-Politiker, was er tat. Er wollte Aufsehen erregen - und eine Debatte provozieren. Das ist ihm gelungen. Denn die Kritik an dem Wort hält bis heute an. So mahnte die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel erst kürzlich, Deutschland müsse "friedenstüchtig" werden.
Trotzdem kann keine Rede davon sein, dass in dieser Republik eine übertriebene Kriegsrhetorik herrschen würde. Das gilt zum einen für die Pistorius-Vokabel. Der Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt ist selbst weit davon entfernt, ein Säbelrassler zu sein. Er wusste vielmehr, dass die Forderung, Deutschland müsse "verteidigungsfähig" werden, so lapidar ist, dass sie es nicht einmal in die Nachrichtensendungen geschafft hätte. Deshalb hat Pistorius die verbale Dosis erhöht - und zwar, um klarzumachen, dass sich die Haltung der Deutschen zu Verteidigungsfragen grundlegend ändern muss. Dieses Ziel hat der Verteidigungsminister erreicht. Ausweislich der Umfragen ist die Mehrheit der Deutschen mittlerweile etwa der Ansicht, dass ein höherer Wehretat unumgänglich ist.
Auch sonst ist, quer durch das politische Spektrum, bislang niemand durch Kriegsgeschrei auffällig geworden: Vertreter der Mitte-Parteien CDU, CSU, SPD und Grüne ohnehin nicht, im Gegenteil. Die schwarz-rote Koalition schreckt selbst vor einer Wiedereinsetzung der Wehrpflicht zurück. Das würde echten Militaristen sicher nicht passieren. Die Linke stößt sich trotz des Ukraine-Krieges an dem, was sie "Aufrüstung" nennt. Und die AfD gilt als Russland-nah.
Mag sein, dass sich die Stimmung im Zuge eines in Europa grassierenden Nationalismus ändert und die historisch bekannte Liaison von Nationalismus und Militarismus wiederkehrt. Doch bisher ist derlei nicht in Sicht. Möge es dabei bleiben.
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