Militärhilfe für die Ukraine : Zwischen offenem Streit und geheimen Waffenlisten
Seit Jahren diskutiert Deutschland über Waffenlieferungen an die Ukraine. Mittlerweile sind Milliardengelder für Militärgüter geflossen, doch die Kritik hält an.
Kulturbruch, "innere Qual", "beispielloser Paradigmenwechsel": Das waren die Reaktionen aus der SPD-Bundestagsfraktion, nachdem der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz am 1. März 2022 den Abgeordneten die milliardenschweren Militärpläne seiner Ampelregierung vorgestellt hatte. "Wir erleben eine Zeitenwende", hatte Scholz wenige Tage zuvor, am 27. Februar 2022, im Bundestag gesagt - drei Tage nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Die Welt danach sei nicht mehr dieselbe wie die Welt davor, stellte er fest. Und er kündigte an, mehr in die deutsche Sicherheit zu investieren.
Nicht nur für Fraktionschef Rolf Mützenich war der 180-Grad-Schwenk mit dem geplanten 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr eine Zeitenwende, die ausgerechnet ein sozialdemokratischer Bundeskanzler vollzog. Auch ein Großteil der SPD-Parlamentarier empfand das so. Gehörten doch bislang die Ostpolitik Willy Brandts, des ersten SPD-Bundeskanzlers, und ein gutes Verhältnis zu Russland zum Goldschatz der Partei.
Bis kurz vor dem Überfall Putins auf die Ukraine warnten hochrangige SPD-Politiker wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor "Säbelrasseln" gegenüber Moskau und vor zu viel Druck. Mützenich redete lieber über Versäumnisse der USA als über die russische Aggression.
Ex-Verteidigungsministerin Lambrecht bot der Ukraine 5.000 Gefechtshelme an
Während die Koalitionspartner von Scholz, FDP und Grüne, den Kanzler dazu drängten, der angegriffenen Ukraine nun jede erdenkliche Hilfe zukommen zu lassen, verweigerte sich ausgerechnet Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD). Die Ankündigung der Ministerin, der Ukraine 5.000 Helme aus Bundeswehrbeständen anstatt der von dem angegriffenen Land erwünschten Waffen liefern zu wollen, gilt als einer der Tiefpunkte in Lambrechts kurzer Amtszeit. Und die Sozialdemokratin wollte das auch noch als "ganz deutliches Signal, dass Berlin 100-prozentig an der Seite der Ukraine steht", verkaufen.

Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) empfängt seinen Gast, den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, Ende Mai 2025 in Berlin.
Dabei hatte der vorsichtige Kanzler Scholz bereits kurz nach der russischen Invasion in der Ukraine entschieden, Waffen in das angegriffene Land zu liefern. Erst im Juni 2022 entschied sich die Bundesregierung, dem öffentlichen Druck nachzugeben und eine Liste mit allen Waffenlieferungen online zu stellen. Damit wollte die Regierung fortan den Nachweis erbringen, dass Deutschland der größte Waffenlieferant der Ukraine nach den USA ist.
Erst Scholz' Nachfolger Friedrich Merz (CDU) entschied kurz nach seinem Amtsantritt im Mai 2025, die Waffenlieferungen wieder geheim zu halten, um eine "strategische Ambiguität" herzustellen, wie es in Fachkreisen heißt - eine Mehrdeutigkeit, um dem Gegner das eigene Agieren zu verschleiern. Die letzte Aktualisierung war am 6. Mai erfolgt.
Waffenlieferungen an die Ukraine stellte Bundewehr vor neue Probleme
Auf www.bundesregierung.de wurde man über alle gelieferten Waffen mit Stückzahl informiert. Zum Beispiel konnte man erfahren, dass 25 Panzerhaubitzen, 121 Leopard-Panzer, 1.050 bewaffnete Drohnen oder 478.000 Schuss Artilleriemunition geliefert wurden. Die Bereitstellung von Militärgerät stellte die kaputtgesparte Bundeswehr vor neue Probleme. So konnten die Lücken für die nach Kiew gelieferten Waffen nur schwer geschlossen werden, und die Truppe geriet in Gefahr, ihre Verpflichtungen im Hinblick auf die Landes- und Bündnisverteidigung nicht mehr erfüllen zu können.
Neben den Lieferungen von Militärgerät bildet die Bundeswehr auch ukrainische Soldaten aus. Laut Bundeswehr ist man, zusammen mit 24 anderen Nationen, Teil der "EU-Trainingsmission zur Unterstützung der Ukraine". Nur selten erfährt die Öffentlichkeit Einzelheiten über diese Trainings. So berichtete das NDR-Fernsehen Anfang 2025 über eine Ausbildung ukrainischer Soldaten zu Panzer-Zugführern auf einem Truppenübungsplatz in Sachsen-Anhalt.
„Unter meiner Führung wird die Debatte um Waffenlieferungen, Kaliber und Waffensysteme aus der Öffentlichkeit herausgenommen.“
Wie sehr sich der Krieg in der Ukraine mittlerweile verändert hat, machen Äußerungen von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) deutlich. Der Niedersachse hatte das Amt im Januar 2023 von Christine Lambrecht übernommen. "Das Bild des Krieges hat sich verändert", sagte Pistorius bei seinem Kiew-Besuch im Juni dieses Jahres.
Seien am Anfang Jets und Panzer im Mittelpunkt gestanden, "war es dann über viele Jahre die Artillerie". Nun gehe es verstärkt um eine "elektromagnetische Kriegsführung und den Kampf mit Drohnen", erklärte er und kündigte zusammen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj den Einstieg in eine "gemeinsame Produktion" an. Das ist nicht die erste ihrer Art. Rheinmetall und Ukroboronprom (Ukrainian Defense Industry) haben bereits 2023 ein Joint Venture gegründet, um gepanzerte Fahrzeuge zu fertigen und Einsatzfahrzeuge zu warten. Zudem gibt es Pläne für eine gemeinsame Munitionsproduktion.
SPD-Fraktionschef Mützenich wollte Krieg einfrieren und "später auch beenden"
In der SPD-Bundestagsfraktion bleiben die Waffenlieferungen weiter umstritten. In einer Bundestagsrede hatte Rolf Mützenich im März 2024 gegen eine mögliche Lieferung von weitreichenden Taurus-Marschflugkörpern an Kiew Stellung bezogen und angedeutet, dass sich die Ukraine mit Russland auf dem eigenen Hoheitsgebiet arrangieren müsse.
Konkret fragte der SPD-Fraktionschef: "Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann? Geht es nicht auch politisch um diese Fragen?" Nicht nur von Seiten der damals noch oppositionellen CDU/CSU-Fraktion hagelte es Kritik, sondern auch von den Koalitionspartnern FDP und Grünen.
Als bei den vorgezogenen Bundestagswahlen im Februar 2025 die Union siegte, zog mit Friedrich Merz (CDU) ein Politiker ins Kanzleramt ein, der sich seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine stets für eine umfassende militärische Unterstützung der Ukraine ausgesprochen hatte. Merz war in seiner Zeit als Oppositionsführer 2022 und 2024 durchs Kriegsgebiet nach Kiew gereist und hatte unter anderem die in Deutschland umstrittene Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern gefordert. Kaum im Amt, hat er diese öffentlichen Bekundungen eingestellt. "Unter meiner Führung wird die Debatte um Waffenlieferungen, Kaliber und Waffensysteme aus der Öffentlichkeit herausgenommen", sagte Merz kurz nach Amtsantritt. Er betonte aber, dass sich an der Zusage nichts ändere, dass man die Ukraine im Kampf gegen Russland weiter unterstützen werde.
In der SPD gehen die Diskussionen um Militärhilfen für die Ukraine weiter
In der SPD, nach der Wahlniederlage von Kanzler Scholz trotzdem wieder in der Regierung, geht die Kritik an Waffenlieferungen für die Ukraine in die nächste Runde. Wieder ist Rolf Mützenich eine der führenden Stimmen. Mittlerweile als Fraktionschef abgelöst, hatte er Anfang Juni zusammen mit anderen SPD-Mitgliedern ein Manifest für eine "Abkehr von der derzeitigen Aufrüstungspolitik" und für eine "Zusammenarbeit mit Russland" unterzeichnet. In dem Papier kritisieren die Sozialdemokraten unter anderem eine "militärische Alarmrhetorik" und fordern diplomatische Gespräche mit Russland.
Obwohl die Partei der Grünen der Friedens- und Umweltbewegung entstammt und vehement gegen Atomraketen und Krieg eingetreten ist, gibt es in ihren Reihen zahlreiche Pragmatiker, was den Umgang mit der Ukraine betrifft. Der frühere Wirtschaftsminister Robert Habeck hatte bereits im Jahr 2021 die Lieferung von Defensivwaffen an Kiew gefordert. Habeck vertritt die Auffassung, dass frühzeitig gelieferte Waffen den 2022 begonnenen Krieg Russlands gegen die Ukraine möglicherweise verhindert hätten. Alte Gewissheiten müssten in neuem Licht betrachtet werden.
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