Bundestag verabschiedet neues Wehrdienstgesetz : Männer müssen wieder zur Musterung
Alle jungen Männer ab dem Jahrgang 2008 werden wieder gemustert. Über eine Reaktivierung der Wehrpflicht muss der Bundestag bei Bedarf erneut entscheiden.
Erstmals seit Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 werden zukünftig wieder alle jungen Männer in Deutschland bei Vollendung des 18. Lebensjahres auf ihre Tauglichkeit für einen Wehrdienst gemustert. Beginnen sollen die Musterungen im Sommer 2027. Bereits ab dem kommenden Jahr müssen alle Männer ab dem Geburtsjahrgang 2008 einen Onlinefragebogen ausfüllen, in dem sie Angaben über eine mögliche Bereitschaft für einen freiwilligen Wehrdienst machen müssen. Zudem werden Informationen zum Gesundheitszustand, zur körperlichen Fitness und zu Bildungsabschlüssen und anderen Qualifikationen abgefragt.
Frauen wird es freigestellt, ob sie den Fragebogen ausfüllen wollen. Der Wehrdienst bleibt vorerst allerdings freiwillig und wird durch eine Erhöhung des Wehrsoldes und Zuschüsse zum Erwerb des Führerscheins ab einer Verpflichtung von zwölf Monaten attraktiver gestaltet.
Rekruten des Aufklärungsbataillons 7 im nordrhein-westfälischen Ahlen bei der Gefechtsausbildung.
Nach wochenlangen Diskussionen in der Regierungskoalition verabschiedete der Bundestag am Freitag nach einer mitunter äußerst hitzigen Debatte das von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) vorgelegte Wehrdienst-Modernisierungsgesetz in der durch den Verteidigungsausschuss gebilligten Fassung. Für die Gesetzesvorlage stimmten die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD. Die Oppositionsfraktionen der AfD, von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken stimmten geschlossen dagegen.
Über eine Wehrpflicht muss der Bundestag gesondert entscheiden
Besonders umstritten sind vor allem die Regelungen im Gesetz für eine sogenannte Bedarfswehrpflicht, wenn es der Bundeswehr in den kommenden Jahren nicht gelingen sollte, ausreichend Freiwillige für den neuen Wehrdienst von mindestens sechs Monaten in der Truppe zu gewinnen oder es die sicherheitspolitische Lage erfordert. Dann soll die Bedarfswehrpflicht eingeführt werden können, bei der in einem Zufallsverfahren entschieden wird, wer einen Wehrdienst zu leisten hat. Darüber muss der Bundestag aber vorher in einem erneuten Gesetzgebungsverfahren entscheiden.
Bis zum Jahr 2035 soll der Personalumfang der Bundeswehr auf mindestens 260.000 aktive Soldaten und 200.000 Reservisten anwachsen. Aktuell stehen der Truppe lediglich rund 182.000 aktive Soldaten zur Verfügung. Mit in den Gesetzestext aufgenommen wurde ein Aufwuchspfad, der Zielmarken über die Truppenstärke definiert. So soll die Bundeswehr im kommenden Jahr auf mindestens 186.000 und 2027 auf mindestens 190.000 Soldaten anwachsen.
Um genügend Freiwillige zu motivieren, wird die Attraktivität des neuen freiwilligen Wehrdienstes deutlich erhöht. So wird der Wehrsold bei einer Mindestverpflichtungszeit von sechs Monaten auf mindestens 2.600 Euro brutto angehoben. Bei einer Verpflichtungszeit von zwölf Monaten und länger steigt der Wehrsold auf mindestens 2.700 Euro brutto und die Wehrdienstleistenden bekommen den Status von Zeitsoldaten. Zudem werden finanzielle Zuschüsse zum Erwerb des Pkw- und des Lkw-Führerscheins gezahlt.
Grüne wollen Koordinierungsstelle für Krisenmanagement
Bei der AfD-Fraktion stoßen gerade diese Maßnahmen zur Attraktivitätssteigerung auf Ablehnung. Die Bundesregierung versuche wieder einmal, alle Probleme durch mehr Geld zu lösen, monierte deren verteidigungspolitischer Sprecher Rüdiger Lucassen. Dies sei "Merkel-Politik", die an ihr Ende komme. Die Bundeswehr, so die Argumentation Lucassens, benötige keine Soldaten, die nur "wegen des Soldes kommen". Es brauche den "deutschen Soldaten, der weiß, wofür er kämpft", "den geborenen Verteidiger seines Landes, der deutschen Schicksalsgemeinschaft".
Für die Grünen erklärte die Abgeordnete Sara Nanni, ihre Fraktion habe die Zeitenwende mitgetragen und auch die Grundgesetzänderung zur Aufhebung der Schuldenbremse bei den Verteidigungsausgaben. Dem neuen Wehrdienst könne man nicht zustimmen, weil es keine Antworten auf die sicherheitspolitischen Anforderungen gebe. Es benötige nicht nur einen personellen Aufwuchs bei den Streitkräften, sondern auch beim Zivilschutz. Beim Kanzleramt müsse eine Koordinierungsstelle für gesamtstaatliches Krisenmanagement eingerichtet werden. Der zur Debatte vorgelegte Entschließungsantrag der Grünen, in dem sie die Einsetzung einer Enquete-Kommission für gesamtgesellschaftliche Resilienz fordern, um über militärische und zivile Dienstformen zu beraten, wurde vom Bundestag mehrheitlich abgelehnt.
Linke will Wehrpflicht aus dem Grundgesetz streichen
Für die Linksfraktion übte die Abgeordnete Desiree Becker scharfe Kritik am Gesetzentwurf. Die Wehrpflicht oder eine Bedarfswehrpflicht sei abzulehnen. Die jungen Menschen hätten anderes zu tun, "als im Regiment Merz den Kopf für das Kapital der Reichen hinzuhalten". Es habe nichts mit Freiwilligkeit zu tun, zum Ausfüllen eines Fragebogens und zur Musterung gezwungen zu werden, argumentierte Becker. Die Linke hatte einen Antrag zur Streichung der Wehrpflicht aus dem Grundgesetz vorgelegt, der allerdings mit den Stimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt wurde.
Die Koalitionsfraktionen wiesen die Kritik der Opposition vehement zurück. Es gehe entgegen mancher Darstellung in der Öffentlichkeit nicht darum, die Lostrommel anzuwerfen, um jungen Menschen "als Kanonenfutter in die Ukraine zu schicken", stellte Siemtje Möller (SPD) klar. “Sondern darum, dass wir uns verteidigen können, um uns nicht verteidigen zu müssen.” Norbert Röttgen (CDU) führte an, der neue Wehrdienst sei die Antwort auf die aktuelle Bedrohung durch Russland. Um dieser zu begegnen, werde nicht nur eine materielle Aufrüstung gebraucht, sondern die Bundeswehr benötige auch deutlich mehr Soldaten.
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) verwies darauf, dass längst auch andere europäische Staaten wie Schweden, Litauen und Kroatien mit neuen Wehrdienstgesetzen auf die Bedrohungslage reagiert hätten. Man könne die Augen nicht vor der Wirklichkeit verschließen. Wenn es nötig sei, müsse man auch zur Wehrpflicht zurückkehren.
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