Entwicklung des Völkerrechts : Meilensteine und unerfüllte Sehnsüchte
Christoph Safferling beschreibt die internationale Strafgerichtsbarkeit 80 Jahre nach den Nürnberger Prozessen als schwer angeschlagen.
Dieses Buch handelt von einer Sehnsucht: Von der Sehnsucht nach einem Völkerrecht, das den Frieden effektiv schützt. Angesichts der aktuellen Kriege und Menschenrechtsverletzungen scheint die Erfüllung dieser Sehnsucht jedoch weit entfernt, Christoph Safferling diagnostiziert eine Rückkehr der Machtpolitik bei einer gleichzeitigen "Ohnmacht des Völkerrechts" in seinem gleichnamigen Buch.
Westfälischer Frieden schaffte die Grundlage des modernen Völkerrechts
Welchen Wert hat das Völkerrecht, wenn es nicht in der Lage ist, Angriffskriege zu verhindern, wenn in Konflikten vergewaltigt und gemordet wird und Diktatoren Menschen unterdrücken können? Um der Antwort auf diese Frage näher zu kommen, wirft der Professor für Straf- und Völkerrecht zunächst einen historisch-analytischen Blick zurück.
Ermittler untersuchen im April 2022 die Leichen aus einem Massengrab in der ukrainischen Stadt Butscha und sichern Beweise für die mutmaßlich von russischen Soldaten begangenen Kriegsverbrechen.
Eine wichtige Etappe war der Westfälische Frieden, der 1648 nach 30 Jahren Krieg um Religion und Territorien, durch Grenzfestlegung, Entschädigungszahlungen und Regeln zur Religionsausübung eine Grundlage für das moderne Völkerrecht schaffte. Für eine gewisse Zeit habe die Norm der absoluten Souveränität von Staaten Sicherheit garantieren können.
Vom gescheiterten Völkerbund zu den Vereinten Nationen
Die Schrecken des Ersten Weltkriegs führten zum Völkerbund, der multilaterale Zusammenarbeit fördern und Frieden sichern sollte. Die Organisation scheiterte jedoch und nach der Niederschlagung des nationalsozialistischen Deutschlands rang die Welt erneut um friedenssichernde Strukturen. Am 24. Oktober 1945 trat schließlich die Charta der Vereinten Nationen in Kraft. Ihr Ziel: künftige Generationen vor der "Geißel des Krieges zu bewahren".
Die strafrechtliche Verfolgung des NS-Angriffskrieges und der Menschheitsverbrechen bei den Nürnberger Prozessen vor 80 Jahren sei dann eine "kategorische Wende im Völkerrecht" gewesen, betont Safferling. Die strafrechtliche Verfolgung von Tätern sei nicht mehr als rein innerstaatliche Angelegenheit betrachtet worden. Die Macht hätte sich dem Recht gebeugt, die zuvor absolut geltende Staatssouveränität sei durchbrochen worden. Nach dem Ende des Kommunismus habe dann die "Stunde des Völkerrechts" geschlagen, da es mit ihm und Diplomatie gelungen sei, in den meisten Fällen einen friedlichen Übergang zur Demokratie zu ermöglichen.
Versprechen von Nürnberg konnte nur bedingt gehalten werden
Der Völkerrechtler beschreibt, wie die Stufen der Weiterentwicklung dieses Rechtssystems auch von Problematiken begleitet waren. Das "Versprechen von Nürnberg" sei trotz des Meilensteins der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs 2002 nur bedingt einhaltbar, da sich nicht alle Staaten seiner Gerichtsbarkeit unterworfen hätten. Zudem existiere keine Weltpolizei und ein geschlossenes Agieren des schwerfälligen UN-Sicherheitsrates zur Sicherung und Schaffung von Frieden werde regelmäßig durch Vetos blockiert.
Christoph Safferling:
Ohnmacht des Völkerrechts.
Die Rückkehr des Krieges und der Menschheitsverbrechen.
dtv,
München 2025;
320 S., 25,00 €
Die Entwicklung weg vom Dogma der Nichteinmischung hin zum Eingreifen bei Menschenrechtsverletzungen sei allerdings nicht vor Missbrauch gefeit, mahnt Safferling. Der Nato-Einsatz in Serbien 1999 sei beispielsweise an den Vereinten Nationen vorbei durchgeführt worden und mit dem "Krieg gegen den Terror" nach den Anschlägen vom 11. September 2001 habe ein "fatales Abgleiten in die Rechtlosigkeit" stattgefunden: Gegen den Irak sei 2003 ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg geführt worden, isolierte Tötungen von vermeintlichen Terroristen definierten das Völkerrecht schamlos um und mit Foltergefängnissen wie in Guantanamo würde "offener Rechtsbruch" betrieben.
Im Fall der Ukraine sei der Zeitpunkt für wirksame UN-Gegenmaßnahmen verpasst worden und die Erklärungen der Generalversammlung könnten das Manko des blockierten Sicherheitsrates nicht aufwiegen.
Safferling mahnt Beharren auf Wertekonsens an
Safferlings Schlussfolgerungen, um Wirkung und Wert des Völkerrechts zu erhöhen: den Sicherheitsrat und andere UN-Institutionen entbürokratisieren, verstärkt auf passgenauere regionale Menschenrechtssysteme setzen, dem IStGH den Rücken stärken, auf dem menschenrechtlichen Wertekonsens beharren.
Für Deutschland wünscht sich Safferling eine selbstbewusstere weltpolitische Führungsrolle, zu der auch militärische Stärke gehöre. Das werde aber wohl für seine "sich gern pazifistisch gebende Generation schwer zu akzeptieren sein". Damit hat er wohl recht und man hätte gerne über den schlichten Verweis auf nötige Aufrüstung hinaus ein wenig Visionäres zur Schaffung einer Weltpolizei gelesen.
Die Bilanz dieses mehr als lesenswerten Buches, das sich nicht scheut, Verursacher und Ursachen der Ohnmacht des Völkerrechts zu nennen, ist eher deprimierend. Alles hoffnungslos? Das verneint Christoph Safferling: Es gebe genug handlungsbereite Staaten, die an Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat glauben.
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