Große Erwartungen in der Europäischen Union : Übernimmt Merz in Brüssel eine Führungsrolle?
Unter Olaf Scholz fiel Deutschland als treibende Kraft in der EU weitgehend aus. Nun ruhen die Hoffnungen der europäischen Partner auf Friedrich Merz.
Beim nächsten EU-Gipfel am 26. Juni werden in Brüssel alle Augen auf Friedrich Merz gerichtet sein. Wird er eine Führungsrolle in Europa einnehmen, so wie es seine CDU-Vorgänger im Amt, Helmut Kohl und Angela Merkel, über Jahre getan haben? "Der deutsche Bundeskanzler hat als Regierungschef des größten Mitgliedslandes automatisch Gewicht am Verhandlungstisch", sagt ein hoher EU-Beamter. Entsprechend hoch sind die Erwartungen.

Wird Merz in der EU vorangehen? Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wies dem Bundeskanzler bei dessen Antrittsbesuch am 9. Mai schon mal den Weg.
Nicht nur, weil Deutschland seit dem Auseinanderbrechen der Ampel-Koalition Anfang November auf der europäischen Bühne so gut wie nicht präsent war. Merz' direkter Vorgänger Olaf Scholz (SPD) hat seine Autorität auf EU-Ebene außerdem kaum genutzt. Scholz habe nie wirklich seinen Platz im Rat der EU gefunden, urteilt Janis Emmanouilidis von der Brüsseler Denkfabrik European Policy Centre. Merz müsse nun eine "konstruktivere Rolle" spielen. EU-Ratspräsident António Costa äußerte sich zuversichtlich: "Neues Führungspersonal heißt immer neue Energie und neue Ideen."
Merz hat erfahrene Mitarbeiter ins Kanzleramt geholt
Die erste Brüssel-Reise des neuen Bundeskanzlers am 9. Mai fiel an seinem dritten Amtstag symbolträchtig mit dem Europa-Tag zusammen. Während seiner Antrittsbesuche bei den EU-Institutionen zeigte er, dass er bereit ist, Europa voranzubringen. Auch kommt in Brüssel gut an, dass sich Merz Sachverstand ins Kanzleramt geholt hat. Sein europapolitischer Berater Michael Clauss war seit 2018 deutscher EU-Botschafter in Brüssel und kennt die Fallstricke des EU-Betriebs wie kaum ein anderer. Auch sein Wirtschaftsberater Levin Holle, zuvor Vorstand bei der Deutschen Bahn, ist mit EU-Themen vertraut aus seiner Zeit im Bundesfinanzministerium. Und wenn Merz betont, dass er auch die Belange der kleinen EU-Mitgliedsländer berücksichtigen will, dann klingt das, als sei er bei Kohl in die Lehre gegangen.
„Deutschland ist essenziell für unsere gemeinsame Wirtschaft.“
Gemessen wird Merz, der von 1989 bis 1994 Europa-Abgeordneter war, allerdings an seinen Taten - und da ergibt sich in den ersten Tagen ein sehr gemischtes Bild. Dass er an seinem zweiten Amtstag nach Paris und Warschau reiste, brachte ihm Beifall ein. Er signalisierte damit nicht nur den Willen, die deutsch-französischen Beziehungen zu beleben, die unter Scholz eingeschlafen waren. Merz setzte damit auch das Zeichen, dass ihm die Erweiterung des Duos um Polen so wichtig ist wie einst Kohl und Merkel.
Beim Thema Ukraine hat Merz bewiesen, dass es ihm ernst ist mit dem Bau von Koalitionen - sogar jenseits der EU. Er weiß, dass ein Ex-Mitgliedstaat wie Großbritannien von zentraler Bedeutung ist. Kurzfristig überzeugte Merz Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Großbritanniens Premier Keir Starmer zu einer Reise in die Ukraine, wo sie ihre Solidarität bekundeten und in Abstimmung mit US-Präsident Donald Trump die Weichen für Friedensverhandlungen stellten.
Unmut über neuen Umgang mit Schutzsuchenden an deutschen Grenzen
Das Thema Verteidigung birgt indes Konfliktpotenzial. In der EU und Ländern wie Frankreich und Spanien gibt es viele Stimmen, die Europas Aufrüstung über gemeinsame Schulden finanzieren wollen. Die Ampel-Regierung hatte das abgelehnt. Merz zeigte sich zwar gesprächsbereit, machte aber auch klar, dass gemeinsame Schulden in Europa, wie sie etwa für den Corona-Wiederaufbauplan aufgenommen wurden, die "absolute Ausnahme" bleiben müssten.
Mächtig Ärger hat sich Merz in Brüssel mit seiner Migrationspolitik eingehandelt. Denn die Grenzkontrollen, die Deutschland seit neuestem praktiziert, waren nicht ausreichend mit den Nachbarn abgestimmt. So herrscht in Polen Unmut über die Staus, die durch die Kontrollen entstehen - was Polens Ministerpräsident Donald Tusk Merz auch deutlich kommunizierte. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen äußerte sich Merz gegenüber diplomatisch, wohl wissend, dass die Experten in ihrer Behörde den Ansatz von Merz sehr kritisch sehen. Sie wies aber darauf hin, dass das EU-Recht Kontrollen an den Binnengrenzen nur zeitlich begrenzt erlaube. Merz bemühte sich um Schadensbegrenzung. Doch der Umgang mit Schutzsuchenden an den deutschen Grenzen bleibt umstritten.
Signal der Einigkeit im Zollstreit mit den USA
Im Zollstreit mit den USA liegt Merz auf einer Linie mit der EU-Kommission, die für die Handelspolitik zuständig ist. Trump machte er in einem Telefonat klar, dass die EU sich nicht auseinanderdividieren lasse. Vor seinem noch nicht terminierten Besuch in Washington will er sich eng mit der Kommission abstimmen. In Brüssel sagte Merz, ihm wäre es am liebsten, wenn sich die EU und die USA einigen würden, die Zölle auf beiden Seiten auf null zu senken. Insgesamt pocht er auf mehr Tempo bei Freihandelsverträgen, etwa mit den Mercosur-Staaten in Lateinamerika.
Ein Wunsch an die Adresse des neuen Bundeskanzlers eint Brüssel und die EU-Staaten: Alle wollen, dass in Deutschland nach Jahren der Stagnation das Wirtschaftswachstum wieder anspringt. "Deutschland ist essenziell für unsere gemeinsame Wirtschaft", sagte EU-Ratspräsident António Costa. Auch daran wird sich Merz messen lassen müssen.
Silke Wettach ist freie Korrespondentin in Brüssel.

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