Deutschland als Treiber einer Reform der EU : Zur Führung verdammt
Herfried Münkler plädiert in seinem Buch „Macht im Umbruch“ für eine stärker Rolle Deutschlands in der EU – und Mehrheitsentscheidungen in deren Außenpolitik.
Aktueller könnte die Frage kaum sein, der Herfried Münkler in seinem neuen Buch "Macht im Umbruch" nachgeht: Welche Konsequenzen ergeben sich für Deutschland aus den weltpolitischen Veränderungen der vergangenen Jahre? Im Mittelpunkt steht dabei für den emeritierten Politikwissenschaftler der Berliner Humboldt-Universität ein weltweiter "Widerstreit zwischen den demokratischen Verfassungsstaaten und den autoritär-autokratischen Regimen".

Bundeskanzler Friedrich Merz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky und die Premierminister von Großbritannien und Polen, Keir Starmer und Donald Tusk (v.l.n.r.), bei ihrem Gipfeltreffen am 10. Mai in Kiew.
Münkler, der bereits rund zwei Dutzend Bücher veröffentlicht hat, kommt zu einer klaren Antwort: Deutschland muss in der Europäischen Union die Führung übernehmen - und zwar nicht mit dem Ziel, deutsche Interessen durchzusetzen, sondern um die EU insgesamt als Gegenpol zu den autoritären Mächten Russland und China, den unberechenbar gewordenen Vereinigten Staaten und der aufstrebenden Wirtschaftsmacht Indien aufzubauen.
Münkler erteilt erneuter Annäherung an Putins Russland eine Absage
Eine Absage erteilt Münkler allen Forderungen, Deutschland solle sich wieder stärker an Russland annähern und die militärische Unterstützung der Ukraine zurückfahren oder gar ganz einstellen. Für ihn birgt eine solche Politik die große Gefahr, dass "Deutschlands langer Weg nach Westen", wie er unter Bezug auf einen bekannten Buchtitel des Historikers Heinrich August Winkler schreibt, durch einen "kurzen Weg nach Osten" abgelöst wird. Dies wäre aus seiner Sicht "eine grundlegende Revision der Entwicklung von 1989/90" und würde in letzter Konsequenz "zum Vordringen eines vom Kreml dominierten autoritär-autokratischen Regimes bis zum Atlantik" führen - für Münkler "ein Horrorszenario".
Anstelle den Drohungen und Lockungen des Kreml nachzugeben, solle sich Deutschland als bevölkerungsreichstes und wirtschaftlich stärkstes Mitgliedsland der EU darauf konzentrieren, die EU so zu reformieren, dass sie sich "als widerstandsfähig gegen Russland, selbstbewusst im Umgang mit China und notfalls auch als unabhängig von den USA" erweisen könne. Ihm schwebt dabei eine "Hierarchiebildung im Zentrum" vor, bei der die Außenpolitik der EU im Wesentlichen von Deutschland, Frankreich und Polen sowie Italien und/oder Spanien sowie von Vertretungen für die skandinavischen und baltischen Länder bestimmt wird. Entscheidungen sollten selbst in diesem kleinen Kreis nach dem Mehrheitsprinzip fallen, sodass es "keine Vetospieler" mehr gebe. Kleinere Mitgliedsländer, die mit ihrer außenpolitischen Entmachtung unzufrieden seien, will Münkler vor die Alternative stellen, entweder unter den veränderten Bedingungen in der EU zu bleiben oder auszutreten "und danach gar keinen Einfluss mehr zu haben, sondern nur ein Spielball der großen Mächte zu sein".
Mehrstufige Mitgliedschaft für mehr Handlungsfähigkeit einer Kern-EU
Nicht ganz so gewagt, aber immer noch sehr ambitioniert ist sein zweiter Reformvorschlag, wonach die EU eine mehrstufige Mitgliedschaft einführen solle, bei der nicht mehr alle Rechtsakte der Gemeinschaft für alle Mitgliedsländer in gleichem Maße gelten sollen. Neben mehr Handlungsfähigkeit einer Kern-EU nach außen verspricht sich Münkler davon auch, "dass die Akzeptanz der Union in den Mitgliedsstaaten wieder wächst, dass der Anti-EU-Affekt als Mobilisierungsresource populistischer Bewegungen schwindet und dass die EU in der Lage ist, die gefährdeten Räume an ihrer Peripherie politisch zu stabilisieren und wirtschaftlich zu stärken".

Herfried Münkler:
Macht im Umbruch.
Deutschlands Rolle in Europa und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
Rowohlt,
Berlin 2025;
431 S., 30,00 €
Es zählt zu den Stärken des Buches, dass Münkler seine Analysen und Schlussfolgerungen immer wieder mit historischen Exkursen begründet, von der athenischen Demokratie und dem Peloponnesischen Krieg über Karl den Großen und die Staufer bis hin zu Napoleon und den beiden Weltkriegen. Eher am Rande thematisiert er allerdings die Frage, ob nicht zuletzt die NS-Vergangenheit Deutschlands erhebliche Vorbehalte gegen eine (zu) starke Führung Deutschlands in Europa hervorrufen würde - und zwar nicht nur in den anderen Mitgliedsländern, sondern auch in der deutschen Gesellschaft.
Kritik an einer Mentalität des Zögerns und Abwartens
Stattdessen beklagt der Berliner Politologe eine "Mentalität des Zögerns und Abwartens in der politischen Klasse" Deutschlands. Der typisch deutsche Politiker ist nach seinen Worten "einer, der auch in der EU keine Entscheidung überstürzt, der stattdessen die Sichtweise der Mitgliedsländer auslotet, Kompromisslinien findet und dann Vorschläge macht, die nach Möglichkeit für alle zustimmungsfähig sind". Zwar räumt Münkler ein, dass die Bundesrepublik mit dieser Methode nicht ganz schlecht gefahren ist in den vergangenen Jahrzehnten. Er hält sie aber aufgrund der veränderten Weltlage für nicht mehr effektiv genug.
Auch wenn sich bezweifeln lässt, ob Münklers Ideen auch nur die geringste Chance auf Durchsetzbarkeit hätten und ob sie für die Handlungsfähigkeit der EU überhaupt sinnvoll wären, hat er auf Grundlage einer präzisen Analyse kreative Vorschläge gemacht, über die sich trefflich diskutieren lässt.
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