
Die Ukraine im dritten Kriegsjahr : Facetten einer traumatisierten Gesellschaft
Der Sammelband "Geteilter Horizont" vereint höchst unterschiedliche Stimmen zum Krieg in der Ukraine und ihrer Zukunft.
Vor zwei Jahren veröffentlichten Katharina Raabe, Lektorin für osteuropäische Literaturen im Suhrkamp Verlag, und die in Deutschland lebende ukrainische Essayistin und Übersetzerin Kateryna Mishchenko die Dokumentation "Gegenwart der Ukraine". Darin schildern Ukrainer ihren täglichen Kampf ums Überleben im Krieg. Das aktuelle Buch der beiden Herausgeberinnen über die "Zukunft der Ukraine" knüpft an den ersten Band an, beschäftigt sich jetzt aber mit dem Erfahrungshorizont einer zutiefst traumatisierten Gesellschaft.
Zu den bekanntesten ukrainischen Autoren des empfehlenswerten Sammelbandes gehören der Psychotherapeut Jurko Prochasko sowie der Schriftsteller und Menschenrechtler Stanislaw Assejew. Vor seiner Gefangennahme durch russische Soldaten hatte Assejew aus Donezk für die ukrainischen Medien berichtet. Lesenswert ist auch Ivan Choopas Erfahrungsbericht. Er hatte als Kommandeur an den Kämpfen um Bachmut teilgenommen. Schonungslos kritisiert Choopa den Zustand der ukrainischen Truppen an der Front im Dezember 2022. Die Rekruten seien eingesetzt worden, obwohl sie "nichts konnten, nicht mal ordentlich schießen". Unter den 17 Autoren des Sammelbandes finden sich auch Journalisten, Wissenschaftler, Künstler, Dokumentarfilmer, ein Kriegsfotograf und eine Kulturwissenschaftlerin. Sie skizzieren Facetten einer im Westen eher unbekannten Ukraine.
Kritik an den Eliten und der Regierung Selenskyj
Darauf verweist auch Herausgeberin Kateryna Mishchenko. In ihrem langatmigen Beitrag schreibt sie, "der Raum in der Ukraine der Gegenwart" werde "durch Täuschung konstruiert". Es sei jedoch schwer dies zu "problematisieren, wenn die Gesellschaft ausblutet". Den in die Ukraine reisenden "Stars und Ausländern" unterstellt sie, auf der Suche nach "Vitalenergie unter schrecklichen Bedingungen" zu sein. “Die Bilder der unbeugsamen Ukrainer oder derer, die täglich sterben, dürfen nicht unsere Valuta für Hilfe sein. Diese Logik führt zu nichts anderem als zu weiterer Zerstörung.”

Kateryna Mishchenko, Katharina Raabe (Hg.):
Geteilter Horizont.
Die Zukunft der Ukraine.
Suhrkamp,
Berlin 2025;
328 Seiten, 23,00 €
Hart kritisiert Mishchenko auch die Politik der ukrainischen Regierung von Präsident Selenskyj, die angeblich diejenigen zur Armee einberufe, die die Regierung kritisierten. Zudem werde die Zivilgesellschaft von der politischen Elite unter Druck gesetzt, die für "ihre eigene Reproduktion" und nicht für die institutionelle Stabilität des Landes arbeite. Mit Plattitüden à la "ohne Demokratie wird es keinen Sieg geben" belehrt sie ihre Leser. Durch den Krieg werde die Regierung zu einer "Art Naturgewalt - sie entfaltet sich und lenkt sich selbst irgendwohin".
Völkerrechtlerin Nußberger steuert Analyse der russischen Politik bei
Lesenswert sind hingegen die beiden letzten Beiträge des Buches. Ein Dokument der Zeitgeschichte ist das lange Interview mit der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini. Sie hatte bereits in den Jahren 2014 und 2015 Verhandlungen für die OSZE mit den Separatisten in Donezk geführt. Für sie steht fest, dass niemand das Recht hat, Kiew zu sagen, welche Bedingungen für Frieden die ukrainische Führung akzeptieren muss. Alles andere klinge “allzu sehr nach Appeasement-Politik, und wir wissen ja, welche Folgen diese Salamitaktik kurz vor dem Zweiten Weltkrieg hatte: Hitler hat sich das Sudetenland einverleibt und dann trotz gegenteiliger Zusagen den Zweiten Weltkrieg begonnen.”
Eine kurze, glänzende Analyse über die russische Politik, insbesondere Moskaus Memorandum "zur Beilegung der ukrainischen Krise" vom Juni 2025, hat eine der besten Kennerinnen der Materie, die Völkerrechtlerin Angelika Nußberger, verfasst. Es gebe keinen Frieden ohne Recht, meint die ehemalige Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. "Russland will dennoch nicht einsehen, dass es für den Rechtsbrecher keinen legalen Weg gibt, das im Krieg Erreichte im Frieden zu bewahren." Das Memorandum enthalte einen Trick: Der UN-Sicherheitsrat soll dem Vertrag seinen Segen erteilen. "Das würde bedeuten", so urteilt sie, “mit höchster Autorität das Unrecht zum Recht zu erklären und die Völkerrechtsordnung auf den Kopf zu stellen. Aber noch ist es nicht so weit. Noch wird gekämpft, nicht nur um Territorien, sondern auch um Recht.”
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