Vor 70 Jahren : Bundestag kommt zu Arbeitsbesuch nach West-Berlin
Um die Verbundenheit mit der geteilten Stadt zu demonstrieren, tagt der Bundestag am 19. Oktober 1955 erstmals in West-Berlin. Weitere Besuche sollten folgen.
"Der Bundestag will damit kundtun, dass er sich für das Schicksal dieser Stadt mit verantwortlich fühlt. Die Freiheit Berlins und Wiedervereinigung unseres Vaterlandes sind ein selbstverständlicher Inhalt und ein entscheidendes Ziel der deutschen Politik." So eröffnete Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (CDU) die Plenarsitzung am 19. Oktober 1955. Das Besondere: Sie fand nicht in Bonn, sondern erstmals in Berlin statt.

Sitzung im Ausweichquartier: Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (CDU) spricht während der Bundestagssitzung im Hörsaal des Physikalischen Instituts der Technischen Universität Berlin.
Für eine Arbeitswoche kamen die Abgeordneten in die alte Hauptstadt, deren Westteil zwar laut Grundgesetz zur Bundesrepublik gehörte, aber nicht von ihr regiert werden durfte. Berlin stand unter alliiertem Vorbehalt und so diente die Arbeitswoche vor allem dazu, die Verbundenheit mit der geteilten Stadt zu demonstrieren. Alle waren sich darin einig: Einmal sollte Berlin wieder Hauptstadt eines geeinten Deutschlands sein.
Auf der Tagesordnung stand die Konjunkturpolitik der Bundesregierung
Da der zerstörte Reichstag erst ab den 1960er Jahren wieder aufgebaut wurde, tagte das Parlament im Physikalischen Institut der Technischen Universität. In den Tagen davor hatten Handwerker und Reinigungskräfte den großen Hörsaal in einen Sitzungssaal verwandelt.
Doch bei aller Symbolik, die in der Ortswahl der Sitzung steckte, betonte Gerstenmaier: "Der Bundestag ist nicht nach Berlin gekommen, um hier eine Feierstunde abzuhalten, sondern um zu arbeiten. Es ist wichtig, dass wir von Zeit zu Zeit in unserer Arbeit innehalten, um unser Tun und Lassen vor der geschichtlichen Vergangenheit und der Zukunft der Nation zu prüfen. Wichtiger aber ist, dass wir uns im parlamentarisch-politischen Alltag redlich um die uns gestellten Aufgaben bemühen."
Zwar nutzten einige Abgeordnete die Gelegenheit, das Berliner Kulturleben zu genießen und besuchten Theatervorstellungen. Die Musik spielte aber im Hörsaal, wo die Konjunkturpolitik der Bundesregierung die Tagesordnung prägte.
Zehnmal tagte der Bundestag bis 1965 in Berlin
Die wirtschaftlichen Sorgen der Bundesrepublik nannte Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard (CDU) in der Debatte "glückliche Sorgen (...), die sich aus dem erfolgreichen Wiederaufbau und der vollen Ausnutzung aller Produktivkräfte für Zwecke der menschlichen Wohlfahrt ergeben". Der FDP-Abgeordnete Walter Scheel betonte: "Ich habe keine Sorge, dass wir gemeinsam auch die schwere Aufgabe meistern werden, die uns erwartet, wenn der Tag der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes endlich herbeikommt."
Insgesamt wurden 40 Anträge der Fraktionen zum Thema an die zuständigen Ausschüsse überwiesen. "Wir möchten am liebsten hierbleiben", erinnerte der spätere Bundespräsident Scheel in seiner Rede an den Grund für den "Bonner Ausflug" nach Berlin. Der Bundestag kam zehn Jahre lang immer wieder nach West-Berlin, zum letzten Mal im April 1965.
Damals hatte die DDR den Bundestagsabgeordneten die Durchreise verboten, sperrte vorübergehend den Transitverkehr; später störten tieffliegende sowjetische Düsenjets die Sitzung. Wegen der heftigen Proteste aus Moskau und Ost-Berlin unterließ der Deutsche Bundestag weitere Sitzungen in Berlin, 1971 wurden sie von den Alliierten untersagt.
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