Streit über die Sicherheitsstrategie der USA : Der Partner als Problemfall
Wirtschaftlich schwach und kulturell im Verfall begriffen, so beschreibt die US-Regierung Europa. Doch kann sie wirklich auf den alten Verbündeten verzichten?
Selten hat ein sicherheitspolitisches Grundsatzpapier der Vereinigten Staaten in Europa so viel Irritation ausgelöst wie die neue Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) der Regierung von Donald Trump. Ausgerechnet in einer Phase, in der die Ukraine-Verhandlungen in eine kritische Phase geraten, wählt der US-Präsident den offenen Konflikt mit den Europäern, während über die Bedrohungen durch China, Russland, Iran oder Nordkorea auffallend wenig gesagt wird.
Autoren sehen Europa auf allen Ebenen im Verfall
Der alte Kontinent erscheint im Dokument nach europäischer Lesart nicht mehr als Partner, sondern als Problemfall: wirtschaftlich schwach, politisch zögerlich und kulturell derart "im Verfall", dass die NSS-Autoren das Risiko der "Auslöschung der Zivilisation" sehen. Vorwiegend ausgelöst durch angeblich ungesteuerte Migration und mangelnde Integration. Dass die EU die Meinungsfreiheit untergrabe, Wirtschaftswachstum ersticke und ungeprüfte Ausländer ins Land lasse, ist der Trump-Administration ein Dorn im Auge.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und US-Präsident Donald Trump im September bei einem Treffen in New York. Die beiden Partner haben sich zunehmend entfremdet.
Warum diese Eskalation gerade jetzt? Erstens dient die Anti-Europa-Rhetorik als Druckmittel. Trump will die Europäer zwingen, sich seinen Vorstellungen von einem raschen, für die USA möglichst billigen Ende des Ukraine-Kriegs zu beugen. Wer als unzuverlässig dargestellt wird, verliert Verhandlungsmacht. "Trump verhandelt nach dem Prinzip: Erst delegitimieren, dann diktieren", sagt ein ehemaliger US-Diplomat. Die Botschaft dahinter lautet: Wenn Europa nicht liefert, entscheidet Washington eben allein.
Zweitens folgt die Strategie einer ökonomischen Logik. In der NSS wird Europa nicht nur sicherheitspolitisch, sondern implizit auch als Marktkonkurrent beschrieben. US-Industrie, US-Energieexporte, US-Rüstungsunternehmen - sie alle profitieren von einem geschwächten, abhängigen Europa.
Wirtschaftsexperte: “Märkte gewinnt man, indem man Konkurrenten klein hält”
Ein republikanischer Wirtschaftsexperte in Washington formuliert es so: "Trump denkt Geopolitik als Markt. Und Märkte gewinnt man, indem man Konkurrenten klein hält." Dass parallel US-Unternehmen auf neue Großaufträge in der europäischen Rüstungs- und Energiewirtschaft hoffen, sei die andere Seite der Medaille.
Drittens spielt Innenpolitik eine zentrale Rolle. Die neue Sicherheitsstrategie liest sich an vielen Stellen wie eine Fortschreibung von Trumps Wahlkampfrhetorik. Migration, Identität, kulturelle Homogenität werden zu Fragen der nationalen Sicherheit hochgestuft.
„Wer glaubt, die USA könnten globale Führung ohne Verbündete ausüben, verkennt die Realität des 21. Jahrhunderts.“
Europa dient hier als abschreckendes Beispiel - als warnende Kulisse für das amerikanische Maga-Publikum. "Europa ist in diesem Papier weniger realer Akteur als Projektionsfläche für Trumps Kulturkampf", sagt die Politikwissenschaftlerin Celeste Wallander von der Universität Pennsylvania. Die Reaktionen in Washington fallen gespalten aus. Demokraten sprechen von einem "gefährlichen Bruch mit 80 Jahren transatlantischer Partnerschaft". Der demokratische Senator Chris Murphy warnt: "Wer Europa öffentlich demontiert, stärkt nicht Amerika, sondern Moskau und Peking."
Manche Republikaner fürchten Isolation der USA
Auch moderate Republikaner zeigen sich alarmiert. Ein früherer Sicherheitsberater der Bush-Regierung sagt hinter vorgehaltener Hand: "Diese Strategie isoliert die USA schneller, als sie Europa diszipliniert." Ganz anders das Lager der Trump-Anhänger: Dort wird die NSS als längst überfällige Abrechnung gefeiert. Europa sei träge, wohlhabend, moralisch überheblich - und militärisch abhängig. Trumps Vorwurf, auf die Europäer sei kein Verlass, verfängt an seiner Basis. "Sie reden viel, zahlen wenig und erwarten, dass wir einspringen", sagte Trump kürzlich. In dieser Lesart ist die Abkehr von Europa kein Risiko, sondern eine Befreiung.
Doch wie berechtigt ist dieser Vorwurf aus US-Sicht tatsächlich? Die Fakten zeichnen ein komplexeres Bild. Richtig ist: Viele europäische Staaten haben jahrzehntelang wenig in Verteidigung investiert. Richtig ist auch: Entscheidungsprozesse in der EU sind langsam. Gleichzeitig aber haben die Europäer in der Ukraine-Frage enorm geliefert - militärisch, finanziell, politisch. Zusammengerechnet liegt Europas Unterstützung inzwischen über der Amerikas. Ein Pentagon-Analyst räumt ein: "Ohne europäische Artillerie, Munition und Ausbildung wäre Kiew heute deutlich schlechter aufgestellt." Von Unzuverlässigkeit kann also kaum die Rede sein.
Kann Trump wirklich auf Europa verzichten? Kurzfristig mag der Eindruck entstehen, Washington könne sich abkoppeln. Langfristig jedoch birgt dieser Kurs erhebliche Risiken - auch für die USA. Europa bleibt der wichtigste wirtschaftliche Partner, ein zentraler militärischer Verbündeter und ein geopolitischer Verstärker amerikanischer Macht. Geheimdienste, Sanktionen, Diplomatie, Abschreckung: All das funktioniert ohne Europa nur eingeschränkt.
Sicherheitsstrategie markiert ideologische Zäsur
"Wer glaubt, die USA könnten globale Führung ohne Verbündete ausüben, verkennt die Realität des 21. Jahrhunderts", sagt der frühere Nato-Botschafter Ivo Daalder. Hinzu kommt das strategische Umfeld. Russland und China beobachten die transatlantischen Spannungen mit Genugtuung. Jede Distanz zwischen Washington und Europa schwächt die westliche Position insgesamt. Ein europäischer Diplomat mit langjähriger Washington-Erfahrung bringt es auf den Punkt: “Trump glaubt, er diszipliniert Europa. In Wahrheit öffnet er Räume für andere.”
Die neue Sicherheitsstrategie markiert weniger einen nüchternen Kurswechsel als eine ideologische Zäsur. Sie zeigt einen Präsidenten, der Sicherheitspolitik primär durch das Prisma von Macht, Märkten und innenpolitischem Nutzen betrachtet. Ob dieser Ansatz Amerika stärkt oder am Ende isoliert, bleibt offen. Sicher ist nur: Der Preis einer dauerhaften Entkopplung von Europa wäre hoch - für beide Seiten.
Stichwort: Nationale Sicherheitsstrategie (NSS)
📃 Die Nationale Sicherheitsstrategie (National Security Strategy, kurz NSS) ist die politische Leitlinie der US-Regierung zur Sicherheits- und Außenpolitik. Als zentrales Rahmendokument legt sie die sicherheits- und außenpolitischen Prioritäten des Präsidenten dar.
💰 Damit dient die NSS den Behörden als Richtschnur vor allem bei der Militärplanung oder bei anderen sicherheitskritischen Budgetentscheidungen.
🏛️ Die Vorlage einer solchen Sicherheitsstrategie durch die US-Regierung ist seit 1986 gesetzlich vorgeschrieben. Tatsächlich aber haben die Regierungen seit Anfang der 2000er-Jahre nur einmal pro Amtszeit eine NSS erarbeitet und veröffentlicht.
Ist die Gefahr der Abnabelung Amerikas real? In Washingtoner Regierungskreisen ist man über die "eindimensionale Lesart" des Strategie-Papiers überrascht und verweist auf Passagen, die deutlich machten, dass die USA unter Trump sehr wohl ein starkes Europa wollten, weil "Europa für die Vereinigten Staaten strategisch und kulturell nach wie vor von entscheidender Bedeutung ist".
Regierungskreise reagieren überrascht auf negative Lesart
Tatsächlich heißt es in der Schrift, dass "der transatlantische Handel nach wie vor eine der Säulen der Weltwirtschaft und des amerikanischen Wohlstands ist" und dass "die europäischen Sektoren von der Fertigung über die Technologie bis hin zur Energie zu den robustesten der Welt gehören". Auch wird darauf verwiesen, dass Europa "die Heimat von Spitzenforschung und weltweit führenden Kulturinstitutionen ist". Washington könne es sich gar nicht leisten, "Europa abzuschreiben", da dies "den Zielen dieser Strategie zuwiderlaufen würde".
Der Autor ist US-Korrespondent der Funke-Mediengruppe.
Mehr Hintergründe
Die EU-Staaten haben sich auf einen 90 Milliarden-Kredit für die Ukraine geeinigt. Die russischen Vermögen werden vorerst nicht angetastet, bleiben aber eine Option.
Gegen die Nutzung der russischen Vermögen für die Ukraine haben nicht nur EU-Staaten Bedenken. Auch Finanzexperten und Völkerrechtler warnen vor diesem Schritt.
Im EU-Parlament startet der Gesetzgebungsprozess zum Handelsdeal mit den USA. Bis zu einer Einigung werden Monate vergehen. Derweil führt Trump neue Zölle ein.