
80 Jahre Kriegsende : Bundespräsident Steinmeier wirft Russland „Geschichtslügen“ vor
In der Gedenkstunde mahnt der Bundespräsident, Erinnerung dürfe nicht Routine werden. Bundestagspräsidentin Klöckner erinnert an das Leid von Frauen und Mädchen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der russischen Regierung im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine "Geschichtslügen" vorgeworfen. "Auch wenn das morgen bei den Siegesfeiern in Moskau wieder behauptet werden sollte: Der Krieg gegen die Ukraine ist eben keine Fortsetzung des Kampfes gegen den Faschismus", sagte Steinmeier am Donnerstag im Bundestag in seiner Rede zum Gedenken an das Kriegsende am 8. Mai vor 80 Jahren
Mit dem "Kampf gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft im Zweiten Weltkrieg" habe der Angriffskrieg gegen ein freies, demokratisches Land nichts gemein. Diese Geschichtslüge des Kremls sei "nichts als eine Verbrämung imperialen Wahns, schweren Unrechts und schwerster Verbrechen", kritisierte der Bundespräsident. Deshalb gelte gerade auch am 8. Mai: "Wir unterstützen die Ukraine in ihrem Kampf um ihre Freiheit, ihre Demokratie, ihre Souveränität." Ließe man die Ukraine schutz- und wehrlos zurück, “hieße das, die Lehren des 8. Mai preiszugeben", so Steinmeier.
Steinmeier dankt Soldaten der Alliierten und der Roten Armee
Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) hatte anlässlich des Kriegsendes vor genau 80 Jahren am 8. Mai 1945 zu einer Gedenkstunde ins Parlament eingeladen. Vor den Abgeordneten und zahlreichen Ehrengästen auf der Tribüne erinnerte der Bundespräsident in seiner Rede an das Leid des Krieges, an den Holocaust sowie an die Schuld und Verantwortung Deutschlands. "Der Zweite Weltkrieg war nichts als ein endloses Grauen. Erniedrigung, Verfolgung, Folter, Mord, Völkermord", sagte Steinmeier. “Es waren Deutsche, die diesen verbrecherischen Krieg entfesselt und ganz Europa mit in den Abgrund gerissen haben.”

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rief in seiner Rede zur Verteidigung der Freiheit auf.
Das Staatsoberhaupt dankte den alliierten Soldaten und den europäischen Widerstandsbewegungen, die das NS-Regime unter "Aufbietung aller Kräfte und mit vielen, vielen Opfern" bezwungen hätten. "Wir wissen auch, welchen Beitrag die Rote Armee dabei geleistet hat, Russen, Ukrainer, Weißrussen und alle, die in ihr gekämpft haben", betonte der Bundespräsident. Mindestens 13 Millionen dieser Soldaten und noch einmal eben so viele Zivilisten hätten ihr Leben verloren. “Die Rote Armee hat Auschwitz befreit - all das vergessen wir auch nicht.”
Der Bundespräsident plädierte für eine lebendige Erinnerungspolitik. Dass der 8. Mai ein Tag der Befreiung sei, wie es der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor 40 Jahren formuliert habe, sei inzwischen zum "Kern unserer gesamtdeutschen Identität" geworden. “Wir alle sind Kinder des 8. Mai”, zitierte Steinmeier den Philosophen Jürgen Habermas Dieser Tag könne aber nicht in "ruhiger Selbstgewissheit" begangen werden, das Erinnern dürfe nicht zur Routine werden, mahnte Steinermeier.
Freiheit sei nicht das große Finale der Geschichte, Freiheit sind nicht für alle Zeit garantiert, warnte der Bundespräsident. Heute müsse zwar nicht mehr gefragt werden, ob der 8. Mai uns befreit habe - die Antwort sei gegeben und bleibe gültig. “Aber wir müssen fragen: Wie können wir frei blieben?"
Bundespräsident kritisiert "Wertebruch Amerikas"
Steinmeier diagnostizierte einen "doppelten Epochenbruch" - zum einen durch den russischen Angriffskrieg, mit dem Putin "unsere europäische Sicherheitsordnung in Trümmer gelegt" habe; zum anderen durch den "Wertebruch Amerikas". Dass sich ausgerechnet die Vereinigten Staaten, die eine auf dem Völkerrecht basierende internationale Ordnung maßgeblich geschaffen und geprägt hätten, von dieser abwendeten, sei "eine Erschütterung neuen Ausmaßes", warnte Steinmeier. Zugleich verwies er darauf, dass auch in Europa die "Faszination des Autoritären und die populistischen Verlockungen" wieder Raum gewinnen.
Dies gelte auch für Deutschland. “Wir schauen auf unser Land, in dem extremistische Kräfte erstarken.” Alte böse Geister würden zu neuem Leben erweckt, warnte der Bundespräsident. “Wer Gutes für dieses Land will, der schützt das Miteinander, den Zusammenhalt und den friedlichen Ausgleich von Interessen. Das erwarte ich von allen Demokraten und Demokratinnen in diesem Land.”
„Wer sich der Vergangenheit stellt, verzichtet nicht auf die Zukunft.“
Angesichts der von ihm skizzierten Herausforderung wandte sich Steinermeier entschieden gegen jede Form von Schlussstrichmentalität. Er sei fest davon überzeugt: "Wer sich der Vergangenheit stellt, verzichtet nicht etwa auf Zukunft." Die Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen sei vielmehr ein "kostbarer Erfahrungsschatz": "Sie ist der Schlüssel, für uns, für unsere Kinder, unsere Enkel, um die Krisen der Gegenwart, vielleicht auch die der Zukunft zu meistern", so der Bundespräsident. “Vertrauen wir doch auf unsere Erfahrung! Stehen wir ein für unsere Werte", forderte Steinmeier.
Bundestagspräsidentin erinnert an zerstörtes Reichstagsgebäude
Bundestagspräsidentin Klöckner hatte in ihrer Rede zu Beginn der Gedenkstunde die symbolische Bedeutung des Reichstagsgebäudes am Ende des Krieges hervorgehoben. Tagelang sei in dem zerstörten Gebäude gekämpft worden. "Das Unheil, das dunkelste Kapitel unserer deutschen Geschichte, hatte nicht zuletzt mit der Notverordnung nach dem Reichstagsbrand 1933 seinen Anfang genommen. Und es endete auch hier", so die Christdemokratin.
Der 8. Mai 1945, der von vielen lange nicht als Befreiung empfunden worden sei, habe die "Neuorientierung hin zur Demokratie" möglich gemacht, betonte Klöckner. “Wer hätte sich 1945 vorstellen können, dass hier im Reichstagsgebäude jemals wieder ein frei gewähltes Parlament tagen würde?”

Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) hob das Leid von Frauen und Mädchen in Kriegen hervor.
Die Bundestagspräsidentin erinnerte an die vielen Gräueltaten des Krieges - etwa in Polen, dem heutigen Belarus und Russland. "Das ungeheuerliche Ausmaß der deutschen Verbrechen, das ist bis heute nicht allen bewusst. Oder schlimmer noch: Viele wollen sich damit gar nicht mehr beschäftigen", sagte Klöckner. Dieser Tendenz entgegenzuwirken, auch dazu diene das Gedenken am 8. Mai.
Mit Blick auf den neuen Antisemitismus mahnte Klöckner, dass Erinnerung auch in die Zukunft, in das Handeln heute übersetzt werden müsse. "Während wir noch das 'Nie wieder" beschwören, passiert das 'Wieder' schon. Jetzt! Auf unseren Straßen. Im Netz. Und sogar an Universitäten!" Auch Steinmeier rief in seiner Rede zum Kampf gegen Antisemitismus auf.
Klöckner nimmt die Opfer sexualisierter Kriegsgewalt in den Fokus
Die Bundestagspräsidentin hob besonders das Leid von Frauen und Mädchen hervor. "Sie sind häufig die übersehenen Opfer eines jeden Krieges", sagte Klöckner. "Das Leid der Frauen wurde in der deutschen Nachkriegsgesellschaft einfach verdrängt." Zwar seien Frauen im Zweiten Weltkrieg nicht frei von Schuld gewesen, aber gerade Frauen und Mädchen hätten viel Leid ertragen müssen, sexuelle Übergriffe, im und nach dem Krieg, "Wir wollen nicht vergessen. Denn viele Kinder von betroffenen Frauen habe nicht vergessen", sagte Klöckner. Sie zitierte aus dem Schreiben einer heute 82-jährigen Tochter einer betroffenen Frau. Diese hatte darum gebeten, auch der Frauen zu gedenken, "die Opfer von sexualisierter Kriegsgewalt wurden und bis heute im Rahmen kriegerischer Konflikte Opfer von Gewalt werden, weil sie Frauen sind".
„Um Frieden und Freiheit zu bewahren, müssen wir auch in der Lage sein, uns militärisch zu verteidigen.“
Klöckner dankte der Frau, die bei der Gedenkstunde anwesend war. Ihre Worte hätten sie sehr bewegt, so die Bundestagspräsidentin: “Es ist Zeit, diesen Frauen in unserem Gedenken auch Raum zu geben, ihr Leid anzuerkennen - und die unglaubliche Kraft, mit der diese Frauen ums Überleben kämpften und entscheidend zum Wiederaufbau beitrugen.”
Klöckner schlug in diesem Zusammenhang auch einen Bogen zum Krieg in der Ukraine. So würden in ukrainischen Städten wie Bucha, Irpin und Mariupol wieder "Mädchen und Frauen zu Opfern sexualisierter Gewalt", die als Kriegswaffe eingesetzt werde. Wie auch Steinmeier kritisierte die Bundestagspräsidentin die russische Propaganda: "Wir werden morgen in Moskau wieder Siegesparaden sehen, die im Namen der Befreier von damals den Krieg gegen die Ukraine heute rechtfertigen sollen. Was für ein Missbrauch der Geschichte.“
Für Deutschland bedeute der Krieg ein Umdenken, betonte die Bundestagspräsidentin: "Um Frieden und Freiheit zu bewahren, müssen wir auch in der Lage sein, uns militärisch zu verteidigen." Am 80. Jahrestag des Kriegsendes gehe es ums Erinnern, aber gleichzeitig um "unser aller Auftrag": "Wer befreit wurde, der ist verpflichtet, zu verteidigen: die Freiheit. Das ist der Auftrag des 8. Mai".
Mehr zur Erinnerungskultur

Der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland über Fehlentwicklungen in der Bildungsarbeit und den dauerhaften Kampf gegen Antisemitismus.

Immer weniger Überlebende des Holocausts können ihre Geschichte selbst erzählen. „Zweitzeugen“ müssen übernehmen. Ein gleichnamiger Verein engagiert sich.

Kriegsgräberstätten mahnen zum Frieden und erinnern an die Opfer von Krieg und Gewalt. Ihr Erhalt ist wichtig, doch die Finanzierung ist kostspielig.