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Sonja Eichwede im Interview : "Wir sind ein Einwanderungsland"

Die SPD-Fraktionsvize über die Reform des Europäischen Asylsystems, Kompromisse in der Koalition und die Akzeptanz der doppelten Staatsbürgerschaft durch die Union.

09.10.2025
True 2025-10-09T17:01:54.7200Z
5 Min

Frau Eichwede, die CDU/CSU wird nicht müde, die "Migrationswende" zu verkünden. Hat sie Recht?

Sonja Eichwede: Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, dass wir in der Migrationspolitik auf der einen Seite Ordnung und Konsequenz walten lassen und auf der anderen Seite Menschlichkeit und Humanität gerecht werden. Vor diesem Hintergrund kann man sehen, dass viele Maßnahmen in Gang gesetzt worden sind, die Wirkung entfalten - nicht nur durch die amtierende Bundesregierung, sondern auch durch die vorherige: beispielsweise die Grenzkontrollen, die seit mehr als einem Jahr erfolgen und vor ein paar Monaten intensiviert wurden mit noch mehr Bundespolizisten an der Grenze. Oder wenn wir darüber reden, dass Beschlüsse auch durchgesetzt werden, wenn es zum Beispiel zu Abschiebungen kommt, oder dass darauf geachtet wird, dass sich die Verfahrensdauer verkürzt, damit es schneller Klarheit gibt, wer einen Aufenthaltstitel bekommt.

Foto: Selin Jasmin

Sonja Eichwede (37) gehört dem Bundestag seit 2021 an und ist in der laufenden Wahlperiode als stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion unter anderem für den Bereich der Innenpolitik zuständig.

Seit Bundesinnenminister Alexander Dobrindt von der CSU im Mai die 2024 von seiner SPD-Amtsvorgängerin Nancy Faeser angeordneten Grenzkontrollen noch intensiviert hat, können auch Asylbewerber zurückgewiesen werden. Sie haben das skeptisch gesehen...

Sonja Eichwede: Diesen Punkt sehe ich weiterhin kritisch, weil ich europarechtliche Bedenken habe, die bereits auch gerichtlich bestätigt wurden. Darüber diskutieren wir weiterhin in der Koalition. So gewichtig diese Fälle sind, muss ich darauf hinweisen, dass es sich beim Großteil der Zurückweisungen an den Grenzen um Personen handelt, die unstrittig zurückgewiesen werden können, und bei vulnerablen Gruppen selbstverständlich Einreise gewährt wird. Die Frage der Ordnung, aber eben auch der Humanität ist sehr wichtig, Ordnung und Humanität müssen in ganz Europa gelten. Deshalb ist uns als Koalition auch wichtig, dass in dieser Woche die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems im Bundestag auf den Weg gebracht wurde, denn wir brauchen bei Flucht und Asyl eine europäische Lösung, und die können wir mit dieser GEAS-Reform erreichen. Wir müssen wieder zu verlässlichen Absprachen kommen, wer für welche Anträge und Verfahren innerhalb Europas zuständig ist. Dass das bisherige Dublin-System in den vergangenen Jahren nicht funktioniert hat, ist deutlich sichtbar.

Zu der Reform gehört auch ein "Solidaritätsmechanismus", wonach die EU-Staaten gegebenenfalls Flüchtlinge aufnehmen oder finanziellen Ausgleich leisten, um die Länder an den Außengrenzen zu unterstützen. Glauben Sie trotz negativer Erfahrungen in der Vergangenheit, dass das im Zweifel funktioniert?

Sonja Eichwede: Europa ist auf Solidarität aufgebaut. Diese Solidarität ist die Stärke Europas: Dass wir als EU überlegen, wie wir Probleme und Herausforderungen gemeinsam angehen können, um sie besser zu lösen, als es jeder Mitgliedstaat für sich allein könnte. Sich darauf zurückzubesinnen und gerade beim Thema Flucht und Asyl miteinander statt gegeneinander zu arbeiten, ist wesentlich. Dazu braucht es diesen Solidaritätsmechanismus, bei dem fair verteilt wird und diejenigen, die nicht aufnehmen wollen, einen finanziellen Beitrag leisten. Das ist ein kluges System.


„25 Prozent der Bevölkerung haben einen Migrationshintergrund - die müssen gesehen werden.“
Sonja Eichwede (SPD)

Die GEAS-Reform ermöglicht der Koalition auch eine Regelung, mit der die Bundesregierung per Rechtsverordnung asylrechtlich sichere Herkunftsstaaten bestimmen kann - wozu es bislang ein Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates braucht. In der Anhörung des Innenausschusses wurde am Montag Kritik laut, dass das verfassungswidrig sei. Solche Bedenken teilen Sie nicht?

Sonja Eichwede: Die Bedenken teile ich nicht. Die europäischen Regelungen eröffnen diese Möglichkeit. Das Wichtige ist auch nicht, ob die Bundesregierung einen solchen Beschluss fasst oder Bundestag und Bundesrat, sondern welche Voraussetzungen für eine Einstufung als sichere Herkunftsstaaten gegeben sein müssen. Und an diesen Voraussetzungen soll sich schließlich nichts ändern. Das ist das Wesentliche. Wir hatten mehrfach die Situation, dass die Voraussetzungen der Einstufung vorlagen, aber die Entscheidung der Hochstufung aus anderen Erwägungen scheiterte. Das ist auch kein guter Zustand. Ich bin sonst sehr dafür, dass das Parlament Dinge selbst in der Hand hat, aber ob Voraussetzungen erfüllt sind oder nicht, kann auch die Exekutive entscheiden.

Gleichzeitig soll die von der "Ampel"-Koalition 2024 eingeführte Pflicht gestrichen werden, in Verfahren über Abschiebehaft oder Ausreisegewahrsam Betroffenen einen Rechtsbeistand zur Seite zu stellen.

Sonja Eichwede: Wir haben das durchaus für eine gute Regelung gehalten. Die Union sieht das anders, und wir sind in einer Koalition, in der man auch Kompromisse eingehen muss. Dazu gehört in diesem großen Bereich, dass diese Regelung nicht weitergeführt werden soll. Wichtig dabei ist - ich bin ja selbst Richterin -, dass wir darauf vertrauen können, dass die Gerichte in den Verfahren nicht parteiisch entscheiden, sondern immer beide Seiten im Blick haben und haben müssen.

Stichwort Kompromisse: Die Koalition hat diese Woche im Bundestag beschlossen, die ebenfalls von der "Ampel" gerade erst eingeführte Möglichkeit der "Turbo-Einbürgerung" nach nur dreijährigem Aufenthalt in Deutschland wieder aus dem Staatsangehörigkeitsrecht zu streichen...

Sonja Eichwede: Ich sehe das anders, nämlich dass unser Koalitionspartner nach vielen, vielen Jahren Diskussion mit diesem Beschluss die Einführung der doppelten Staatsangehörigkeit anerkennt und akzeptiert…


„Eine Aufwertung des terroristischen Regimes der Taliban darf es nicht geben.“
Sonja Eichwede (SPD)

...deren generelle Hinnahme im selben Gesetz steht wie die verkürzten Einbürgerungsfristen und an der auch nicht gerüttelt wird...

Sonja Eichwede: Die Union war gegen die doppelte Staatsangehörigkeit, aber in den Koalitionsverhandlungen sind wir zu der Einigung gekommen, dass von dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht nur ein ganz kleiner Teil wieder geändert wird, der auch nur sehr selten zum Zug gekommen ist. Damit haben wir eine Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft durch alle demokratischen Fraktionen im Bundestag: Das ist eine gute Nachricht für viele Menschen in Deutschland, die seit Jahrzehnten zum Erfolg der Bundesrepublik beitragen und nun auch die Staatsbürgerschaft haben können. Deutschland ist ein Einwanderungsland, und wir brauchen Menschen, die hierherkommen, gerade vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels. Wir müssen ihnen eine Perspektive bieten und die Chance geben, mit allen Rechten und Pflichten Teil unserer Gesellschaft zu werden. 25 Prozent der Bevölkerung haben einen Migrationshintergrund - die müssen gesehen werden.

Im Koalitionsvertrag ist auch eine Rückführungsoffensive angekündigt. Der Bundesinnenminister nimmt Gespräche mit den Taliban in Kauf, um regelmäßige Abschiebeflüge nach Afghanistan zu ermöglichen. Ist das nicht eine Aufwertung der Taliban?

Sonja Eichwede: Technische Gespräche gab es immer und sind keine Aufwertung. Für uns gilt aber: Eine Aufwertung des terroristischen Regimes der Taliban darf es nicht geben.

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