Gedenkstunde zum Ende des Zweiten Weltkrieges : "Wir alle sind Kinder des 8. Mai"
Bundespräsident Steinmeier und Bundestagspräsidentin Klöckner mahnen eine auf die Zukunft gerichtete Erinnerungskultur an.
"Wir alle sind Kinder des 8. Mai." Dieser Satz des deutschen Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas durchzog als Leitmotiv die Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am vergangenen Donnerstag während der Gedenkstunde des Deutschen Bundestags zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Europa.

Gedenkstunde des Bundestages zum 80. Jahrestag des Ende des Zweiten Weltkriegs
Es gibt einige Daten, die in der deutschen Erinnerungskultur zum Nationalsozialismus einen herausragenden Platz einnehmen: Da ist der 30. Januar 1933, der mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler den Beginn der zwölfjährigen NS-Diktatur markiert. Die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 gilt als das Fanal für die Verfolgung und planmäßige Ermordung von mehr als sechs Millionen Juden in Europa. Der 1. September 1939 steht für den Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen und den Beginn des Zweiten Weltkriegs, der in Europa 60 Millionen Tote fordern wird. Die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 wiederum ist seit 1996 Anlass für das jährliche öffentliche Gedenken für alle Opfer des Nationalsozialismus. Am 8. Mai hingegen, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands vor den alliierten Siegermächten, kumulieren all diese Daten, all das Gedenken und Erinnern.
Klares Bekenntnis zu den Verbrechen der Deutschen
"Es waren Deutsche, die diesen verbrecherischen Krieg entfesselt und ganz Europa mit in den Abgrund gerissen haben", betonte Steinmeier in seiner Rede wohl ganz bewusst und wies damit den oft unternommenen Entschuldungs-Versuch, die begangenen Verbrechen zwischen 1933 und 1945 bei "den Nazis" abzuladen, zurück. "Es waren Deutsche, die das Menschheitsverbrechen der Shoah begangen haben. Und es waren Deutsche, die nicht willens und nicht fähig waren, selber das Joch des NS-Regimes abzuwerfen." Seit der Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 8. Mai vor 40 Jahren hat sich jedoch nach langen und mitunter heftigen Debatten ebenso die Erkenntnis durchgesetzt, dass dieser Tag auch von den Deutschen als ein "Tag der Befreiung" empfunden werden kann und sollte. So sei der 8. Mai "als Tag der Befreiung Kern unserer gesamtdeutschen Identität geworden", führte Steinmeier aus.

„Unsere Geschichte ist kein Gefängnis, in das wir eingesperrt sind. Sie ist kein Ballast, auch nicht für uns Nachgeborene.“
Auch Bundestagspräsidentin Julia Klöckner betonte in ihrer Rede, welche Bedeutung Gedenktage wie der 8. Mai und die Erinnerungskultur haben. Aber auch, dass das Gedenken und Erinnern Gefahr laufen, zu einer hohlen Phrase zu werden, wenn sie nicht durch konkrete Politik begleitet werden. So schütze allein die Erinnerung an den Holocaust wie am 27. Januar "nicht vor neuem Antisemitismus", sagte Klöckner. Der Antisemitismus habe viele Gesichter und Narrative. "Während wir noch das ,Nie-wieder' beschwören, passiert das ,Wieder' schon. Jetzt! Auf unseren Straßen. Im Netz. Und sogar an Universitäten! Wer zeitlich nach hinten erinnert, muss auch nach vorne übersetzen - auf heutiges Handeln!"
Ebenfalls ohne es namentlich zu benennen, machte Klöckner damit deutlich, dass die Gefahr des Antisemitismus nicht nur von den rechten Rändern, sondern auch von linken und islamistischen Gruppierungen ausgeht, die in der jüngsten Vergangenheit unter dem Deckmantel der Solidarität mit den Palästinensern antisemitische Narrative bedienen oder mit dem Slogan "From the river to the sea, Palestine will be free" - wenn auch verklausuliert - das Existenzrecht Israels negieren.
Das zentrale Thema der Rede des deutschen Staatsoberhauptes an diesem Tag ist jedoch, welche Konsequenzen sich für die Deutschen, die Kinder des 8. Mai, aus dieser Erkenntnis ergeben. Und diese formuliert Steinmeier mit der Frage: "Wie können wir frei bleiben, wie bewahren und schützen wir unsere Demokratie?" Bedroht seien die Freiheit und die Demokratie weltweit. Die "Faszination des Autoritären und populistische Verlockungen" gewönnen 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wieder Raum, und Zweifel an der Demokratie würden laut. Auch in Deutschland verhöhnten extremistische Kräfte die Institutionen und Repräsentanten der Demokratie. "Sie vergiften unsere Debatten. Sie spielen mit den Sorgen der Menschen. Sie betreiben das Geschäft mit der Angst. Sie hetzen Menschen gegeneinander auf. Sie erwecken alte böse Geister zu neuem Leben."
Absage an den "Schlussstrich" unter die Geschichte
Ein zentrales Element, um diesen Kräften entgegenzutreten, sieht Steinmeier in einer lebendigen Erinnerungskultur, in der "Kraft der gemeinsamen Erinnerung". Die Geschichte sei "kein Gefängnis, in das wir eingesperrt sind. Sie ist kein Ballast, auch nicht für uns Nachgeborene", stellt Steinmeier klar.

„Wer zeitlich nach hinten erinnert, muss auch nach vorne übersetzen - auf heutiges Handeln!“
Eine deutliche Absage erteilte er denn auch jenen Stimmen, "auch in diesem Haus", die einen sogenannten ,Schlussstrich' unter unsere Geschichte und unsere Verantwortung fordern". Steinmeier muss es nicht explizit aussprechen und tut es auch nicht, aber die Zuhörer innerhalb und außerhalb des Plenarsaals des Reichstagsgebäudes wissen, an wen der Bundespräsident diese Worte adressiert. Seit Jahren fordern hochrangige Vertreter der AfD eine "180-Grad-Wende" in der deutschen Erinnerungskultur, polemisieren gegen eine vermeintlichen "Schuldkomplex", der den Deutschen eingeredet worden sei, degradieren den Terror der Nationalsozialisten zu einem "Vogelschiss" in der deutschen Geschichte, desavouieren das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin als "Mahnmal der Schande" oder betreiben offene Geschichtsfälschung, wenn sie Hitler zum Kommunisten erklären.
Auch die Abgeordneten der AfD-Fraktion wissen, dass sich Steinmeiers Kritik und Mahnung an sie richtet. Und so regt sich in ihren Reihen kaum eine Hand zum Applaus, ihre Gesichter verraten Ablehnung, mitunter gar Spott - während vieler Passagen der Rede des Bundespräsidenten.
Wie das von Klöckner geforderte Übersetzen nach vorne auf heutiges Handeln auch in außenpolitischen Fragen aussehen soll, machten sie und Steinmeier ebenfalls deutlich. Vor allem in der Frage des Ukraine-Krieges. Putins "Feldzug gegen ein freies, demokratisches Land", habe nichts gemein mit dem Kampf gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, sagte Steinmeier. "Diese Geschichtslüge ist nichts als eine Verbrämung imperialen Wahns, schweren Unrechts und schwerster Verbrechen!" Gerade weil Deutschland nicht vergessen habe, welche gewaltigen Opfer die Sowjetunion aufbrachte - 13 Millionen tote Soldaten und noch einmal so viele Zivilisten.
Plädoyer für die Unterstützung der Ukraine
Die berechtigte Sorge der Deutschen vor dem Krieg aus ihren historischen Erfahrungen dürfe auch nicht zu einem Verzicht bei der eigenen Verteidigung führen, sagte Steinmeier. "Wir müssen alles tun, gemeinsam mit unseren europäischen Partnern, um Putins Landnahme aufzuhalten. Wir müssen zeigen: Demokratien sind keine wehrlosen Opfer." Auch dies sei ein Auftrag des 8. Mai. Und übereinstimmend postulierte Julia Klöckner: Wer befreit wurde, sei verpflichtet, die Freiheit auch zu verteidigen.
Deutliche Worte richtete Bundespräsident Steinmeier auch an die Regierung von US-Präsident Donald Trump. Dass sich ausgerechnet die Vereinigten Staaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich am Aufbau der internationalen Ordnung auf Basis des Völkerrechts beteiligt gewesen seien, "von ihr abwenden, ist eine Erschütterung von ganz neuem Ausmaß". Der Angriffskrieg Russlands und der Wertebruch Amerikas seien ein "doppelter Epochenbruch", der das Ende des langen 20. Jahrhunderts markiere.
In dieser Situation, so führte Steinmeier abschließend an, gebe der Satz von Habermas "Wir sind alle Kinder des 8. Mai" Hoffnung. “Von außen kann uns heute niemand die Freiheit schenken. Wir müssen selbst für sie einstehen. Wir wissen, was zu tun ist.”
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